Während die deutschen Fans des Anime-Regisseurs Hayao Miyazaki sehnsüchtig auf den Start seines jüngsten Films „The Boy and the Heron“ warten, hat der Verlag Reprodukt ein Frühwerk von Miyazaki herausgebracht: das Manga „Shunas Reise“ aus dem Jahr 1983 – ein visuell hinreißendes Abenteuer.
Die Bildwelten des japanischen Regisseurs Hayao Miyazaki haben eine ganze Generation von Animationsfilm-Liebhaberinnen nicht nur in Japan, sondern auch im Westen geprägt. Filme wie „Nausicaä aus dem Tal der Winde“ (1984), „Das Schloss im Himmel“ (1986) und „Mein Nachbar Totoro“ (1988) besitzen längst Kultstatus; und „Chihiros Reise ins Zauberland“ (2001) zählt zu den erfolgreichsten Anime-Filmen überhaupt.
Während die deutsche Fangemeinde derzeit sehnsüchtig auf den Start von Miyazakis jüngstem Werk, „The Boy and the Heron“ wartet – eigentlich hatte der 1941 geborene Künstler bereits „Wie der Wind sich hebt“ (2013) zu seinem letzten Werk erklärt, konnte dann der Versuchung nicht widerstehen, den Jugendromanklassikers „How Do You Live?“ von Genzaburo Yoshino zu verfilmen – ist beim Verlag Reprodukt ein Frühwerk von Miyazaki erschienen: die Bildergeschichte „Shunas Reise“.
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Es handelt sich um ein Manga mit entsprechender Von-hinten-nach-vorn-Leserichtung aus dem Jahr 1983 und einer ungewöhnlich ruhigen, kontemplativen Gestaltung, fast eher Märchen-Illustration denn Comic-Ästhetik. Der Band arbeitet pro Seite nur mit ein oder zwei, höchstenfalls drei Panels, teils sogar mit doppelseitigen Panoramabildern. Ein richtiger Handlungsfluss ergibt sich nicht, sondern eher ein traumähnliches Springen von einer Situation zur nächsten, ohne dass darunter aber die Verständlichkeit oder Erzähllogik leiden würde. Mit den üblichen Sprechblasen-Dialogen wird höchst sparsam umgegangen; stattdessen weht durch die kleinen Erzähltexte in und neben den Bildern der Atem alter Sagen.
Das passt bestens zum Stoff. Die Inspiration zu „Shunas Reise“ lieferte eine tibetanische Legende, wie man aus dem ausführlichen Nachwort von Alex Dudok de Wit erfährt, das die Geschichte flankiert und hilft, sie und ihre Entstehung in Miyazakis Werk einzuordnen.
Eine Abenteuerreise voller Gefahren
Im Zentrum steht, wie so oft in Miyazakis Filmen, das Verhältnis von Mensch und Natur sowie gesellschaftliche Missstände, die sich im Zuge der neuzeitlichen Zivilisation herausgebildet haben. Titelheld ist der junge Prinz eines Bergvolks, das in einem kargen, abgeschiedenen Gebirgstal lebt. Die Menschen führen ein entbehrungsreiches Dasein im Kampf mit den Widrigkeiten des Wetters, das die ohnehin spärlichen Lebensgrundlagen ständig gefährdet.
Als es einen erschöpften Reisenden in diese Gegend verschlägt, erfährt Shuna von dem Sterbenden ein Gerücht, dass die Hoffnung auf eine bessere Zukunft für sein Volk in ihm weckt. Weit weg im Westen soll es „Göttermenschen“ geben, die über goldene Samen verfügen, aus denen üppiges Getreide wächst. Bald hält Shuna nichts mehr zurück. Obwohl ihn die Älteren bitten, sich mit dem zu bescheiden, was die Heimat zu bieten hat, bricht der junge Mann mit seinem getreuen Reittier Richtung Westen auf, um sich auf die Suche nach den fabelhaften Samen zu machen.
Es wird eine
Reise voller aufregender, auch schmerzhaft-bitterer Erfahrungen. Denn die Welt außerhalb
des Tals entpuppt sich als wenig gastfreundlicher Ort. Allenthalben herrscht
ein Überlebenskampf, bei dem sich die Stärkeren nicht scheuen, die Schwächeren
auszubeuten. Einen ersten Vorgeschmack bekommt Shuna, als er eines Abends
mitten in der Steppe auf ein vor sich hinrottendes Schiff stößt, das keineswegs
einen Unterschlupf für die Nacht bietet, sondern eine tödliche Bedrohung birgt.
Und in einer Stadt stößt er weniger auf bunte Exotik denn auf viel Brutalität;
der Handel ist nicht nur auf verlockende Waren beschränkt, sondern erstreckt
sich auch auf Sklaven.
Hier kommt es auch zu einer schicksalhaften Begegnung und einer ersten moralischen Bewährungsprobe, als sich Shunas Weg mit dem zweier Schwestern kreuzt, die in die Sklaverei verschleppt wurden. Shuna entscheidet sich, seine Augen vor ihrem Leid nicht zu verschließen. In der Älteren – eine der typischen heroischen Miyazaki-Mädchenfiguren – findet er eine couragierte Gefährtin, deren Loyalität und Stärke für das Ziel seiner Reise eine entscheidende Rolle spielt. Denn als Shuna nach weiteren Abenteuern schließlich tatsächlich einen Weg zu den Göttermenschen und ihrem besonderen Korn findet, verläuft die Begegnung anders als geplant und zieht drastische Konsequenzen nach sich.
Visuelle Sogwirkung
Das Studio Ghibli, mit dem sich Miyazaki nach dem Erfolg von „Nausicaä“ die Möglichkeit schuf, seine filmischen Visionen umzusetzen, war während der Entstehung von „Shunas Reise“ noch Zukunftsmusik. Zwar hatte Miyazaki mit „Das Schloss des Cagliostro“ (1979) neben seinen Arbeiten für Anime-Serien auch schon eine filmische Talentprobe präsentiert. Aber die war nicht von Erfolg gekrönt, weshalb er sich zunächst auf die Kreation von Mangas verlegte und dabei gleichzeitig auch schon „Nausicaä“ vorbereitete. Deshalb wundert es nicht, dass „Shuna“ und „Nausicaä“ motivisch verwandt sind; Fans von Miyazakis Filmen werden auch Ähnlichkeiten zu anderen Werken entdecken.
„Shunas
Reise“ steht den Filmen an visueller Sogwirkung keineswegs nach. Jenseits
gängiger Manga-Ästhetik entfaltet sich die Geschichte in Bildern, die in
luziden Aquarelltönen erstrahlen und in liebevoll-detaillierter Genauigkeit
Shunas fiktive Welt erkunden. Diese ist zwar geografisch nicht genauer
definiert und changiert auch ins Fantastische, wenn Shuna zur Insel der
Göttermenschen übersetzt. Sie ist aber deutlich von den tibetisch-asiatischen
Wurzeln des Erzählstoffs inspiriert – manchmal kombiniert mit Anklängen an den für
Miyazaki typischen Steampunk, etwa wenn Shuna auf das unheimliche Schiffswrack
stößt oder Sklavenjäger in einem gewaltigen Kampfwagen hinter dem Prinzen und
den Mädchen herjagen.
Zusammen mit den knappen, klaren Texten formt sich daraus eine Geschichte, die einerseits archaisch wirkt, in vielen Aspekten aber trotz der vierzig Jahre, die „Shunas Reise“ mittlerweile schon alt ist, erstaunlich zeitgenössisch erscheint. Dass Miyazaki auch in den frühen 1980er-Jahren bereits ein visionärer Künstler war, der mit seinen Figurenzeichnungen, vor allem aber mit seinem Blick auf die „conditio humana“ im Verhältnis zu Mitmenschen und Natur weit über das Tagesaktuelle hinausblickte, zeigt dieser wunderschöne Band genauso eindringlich wie die späteren Filme.
Hinweis:
Shunas Reise. Von Hayao Miyazaki. Reprodukt Verlag, 2023. 160 Seiten. 20,00 EUR. Bezug: In jeder Buchhandlung oder hier.