Von den „Anfängen bis zur Gegenwart“ zeichnet ein monumentales Werk die Geschichte des Dokumentarfilms in Deutschland nach. Die Monografie bettet den deutschen Dokfilm dabei in den Kontext der allgemeinen Historie ein. In ihr spiegelt sich sehr prominent die jeweilige Medien-, Mentalitäts- und Gesellschaftsgeschichte. Das reich bebilderte Werk ist bei der Bundeszentrale für politische Bildung erschienen und mit einem Preis von 7 Euro konkurrenzlos günstig.
Wer das Buch „Dokumentarfilm in Deutschland. Von den Anfängen bis zur Gegenwart“ von Peter Zimmermann zum ersten Mal in die Hand nimmt, ist angenehm überrascht. Das mit 397 Seiten umfangreiche Groß-Oktavformat ist großzügig gelayoutet und mit 264 teils farbigen Abbildungen bestens gedruckt. Außerdem ist es mit einem Verkaufspreis von 7 Euro unschlagbar günstig. Der Preis erklärt sich daraus, dass das Buch von der Bundeszentrale für Politische Bildung im Rahmen ihrer Materialien angeboten wird und deshalb hoch subventioniert ist.
Dass die Bundeszentrale eine solche eher medienwissenschaftliche Publikation herausgibt, ist nicht so absonderlich, wie es auf den ersten Blick vielleicht erscheint. Denn der Autor Peter Zimmermann, der lange Jahre als wissenschaftlicher Leiter im Haus des Dokumentarfilms in Stuttgart arbeitete, verbindet seine Rekonstruktion der Dokumentarfilmgeschichte mit einer pointierten Darstellung der allgemeinen Geschichte Deutschlands, die vom Kaiserreich über Weimarer Republik, die Nazizeit, Bundesrepublik und DDR bis zur Wiedervereinigung und die nachfolgenden Jahre reicht. Das Buch ist nach den wichtigen politischen Perioden gegliedert, ehe der Autor am Ende so etwas wie eine Bilanz des Dokumentarfilms „im Wechsel der Gesellschaftsformen, Medientechnologien, Ideologien und politischen Diskurse“ zieht.
Im Wechselspiel der Perspektiven
Diese politisch fundierte Darstellung ist doppelt legitimiert. Zum einen ist die Produktion dokumentarischer Filme – von den ersten Darstellungen des Kaisers Ende des 19. Jahrhunderts bis zu den über Internet verbreiteten Videoclips gegenwärtiger Politiker – durch die Themen, Vorstellungen und Zwecke der jeweiligen Politik mitbestimmt. Zum anderen haben dokumentarische Filme immer wieder auf sehr unterschiedlicher Weise – von der schieren Propaganda bis zu einer scheinobjektiven Darstellung – auf die Politik zurückgewirkt. Außerdem sind auch die Institutionen, die dokumentarische Filme herstellen und verbreiten, stark von den politischen Strömungen und Interessen der jeweiligen Zeit geprägt.
Als Leser ist man nicht unbedingt
mit jeder Darstellung zeitgeschichtlicher Details im Buch einverstanden. Aber
das ist angesichts der notwendigen Verkürzung und Pointierung fast schon eine
Selbstverständlichkeit. Zudem muss man Zimmermann auch den eigenen Blick auf
die Allgemeingeschichte zubilligen, wie man den Dokumentaristinnen und
Dokumentaristen ja auch ihren Blick auf die Welt zugesteht.
Zimmermanns Blick ist der eines Medienwissenschaftlers, der die Filme aus einer Art Mitteldistanz und also stets in einem historischen Abstand betrachtet. Dass er selbst thematischen Moden unterliegt, die er bei den Dokumentarfilmen öfters konstatiert, kann man allerdings nur dann entdecken, wenn man viele seiner Detailstudien, die Zimmermann im Lauf der Jahre publiziert hat, noch einmal nachliest. Dass er der Autor mit den meisten Angaben im Literaturteil des Buches ist, deutet auf ein gewisses Selbstbewusstsein hin.
Auffallend ist weiterhin, dass Zimmermann sich nur selten auf film- oder fernsehkritische Publikationen bezieht; eine so wichtige Zeitschrift wie die „Filmkritik“ wird beispielsweise nur an wenigen Stellen zitiert. Stattdessen rekurriert er vor allem auf jene Sammeldarstellungen der Film- und Fernsehgeschichte, die seit den 1980er-Jahren erschienen sind. An einigen Studien wie der dreibändigen „Geschichte des dokumentarischen Films“ war Zimmermann als Herausgeber und als (Co-)Autor einzelner Kapitel beteiligt.
Ein materialreicher Überblick
Der Vorteil dieses Verfahrens ist der materialreiche Überblick über Entwicklungen und Ausdifferenzierungen etwa von den „Vues“ der Gebrüder Lumière Ende des 19. Jahrhunderts über die Wochenschauen, wie sie sich um 1910 herausbilden, bis zu den Propagandafilmen des Ersten Weltkriegs. Hier fördert Zimmermann mitunter verblüffende Erkenntnisse zutage, beispielsweise dass seit dem Ersten Weltkrieg „in Deutschland aufgeführte dokumentarische Filme zum allergrößten Teil von deutschen Filmfirmen produziert“ wurden. Oder dass Hans Cürlis in der Weimarer Republik mit Propagandafilmen gegen den Versailler Friedensvertrag begann, ehe er Filme über die Bildende Kunst realisierte. Während der Nazi-Zeit konnte er seine Arbeit problemlos fortsetzen, um „nach 1945 einer der wichtigsten Kunstfilm-Produzenten der frühen Bundesrepublik“ zu werden.
Spannend ist, wie Zimmermann an vielen Beispielen herausarbeitet, dass während der 1950er-Jahre in der Bundesrepublik wie in der DDR die Perspektive der NS-Propagandafilme „gebrochen wurde“ und „durch zwei widersprüchliche Betrachtungsweisen“ ersetzt wurde, „die zwar beide mehr oder weniger antifaschistisch waren, (aber) die Funktionalisierung dokumentarischer Zwecke für politische Zwecke übernahmen“. Bereits hier bezieht sich Zimmermann umfassend auf viele dokumentarische Sendungen des Fernsehens beider deutscher Staaten.
Auch für die nachfolgenden Jahrzehnte bettet Zimmermann plausibel den klassischen Autoren-Dokumentarfilm in die Entwicklungen ein, die dokumentarische Formen im Fernsehen nahmen – vom politischen Magazin-Journalismus der 1960er-Jahre bis zu den Spekulationen der Privaten in den Real-Life-Formaten dreißig Jahre später. So setzt er auch die auf Gesprächen beruhenden Dokumentarfilme in den Zusammenhang dessen, was heute pauschal als „Talkshow“ bezeichnet wird. Verdienstvoll ist auch, wie er die Veränderung von Themen im Laufe der Jahrzehnte nachzeichnet, etwa in den Filmen zur Industriearbeit oder zu ökologischen Problemen und Katastrophen.
Während die Detailanalysen einiger Filme wie etwa des Kulturfilms „Der Hirschkäfer“ (1921) von bestechender Qualität sind, leidet das Buch an anderen Stellen unter pauschalen Zuweisungen und Einordnungen. Dass „Der Mann mit der Kamera“ (1928) von Dziga Vertov „ein bis heute unübertroffenes Meisterstück des dokumentarischen Essayfilms“ sei und „als herausragendste Leistung und Höhepunkt des avantgardistischen dokumentarischen Stummfilms“ gelte, wird an keine Stelle begründet. Der Superlativ steht ohnehin in Gefahr, Stilblüten zu fabrizieren. Diese unterlaufen Zimmermann gelegentlich, etwa dass der Kulturfilm zu einer bestimmten Zeit „wie eine windstille Oase in den Stürmen der Zeitgeschichte“ erscheine.
Andere Lesweisen werden ausgeblendet
Das mag man als eine
lässliche Geschmacksverirrung verbuchen. Anders verhält es sich mit Zimmermanns
Urteil, dass Siegfried Kracauer und andere die Dokumentarfilme der Nazi-Zeit
allein „als Instrumente zur Lenkung und Verführung der Massen“ bestimmt und
somit „vernichtend kritisiert“ hätten. Vernichtend? Hier vergreift sich
Zimmermann in der Wortwahl. Dabei besitzt sein Versuch einer Neubestimmung der
NS-Dokumentarfilme durchaus eine gewisse Berechtigung, wenn er sie im Licht der
„Entwicklung von Faschismus, Moderne und Avantgarde“ näher betrachtet.
Autoren, die Thesen zu einzelnen Filmsorten oder Perioden vertreten, die mit denen von Zimmermann kollidieren, haben es bei ihm ohnehin schwer. Hartmut Bitomsky habe in seinen filmhistorischen Dokumentarfilmen „Deutschlandbilder“ (1982) und „Reichsautobahn“ (1986) übersehen, dass das, was er „als typische Bildästhetik“ der Kulturfilme der Nazizeit dargestellt habe, sich „in ähnlicher Form schon in den Kulturfilmen der Weimarer Republik und im internationalen Dokumentarfilm jener Zeit“ fände. Von diesem Satz ist Zimmermann so begeistert, dass er ihn gleich zwei Mal im Abstand von 14 Seiten in fast identischer Form verwendet. Beide Mal unterschlägt Zimmermann aber, dass Bitomsky „Deutschlandbilder“ gemeinsam mit Heiner Mühlenbrock realisierte; generell werden die Kameraleute, Cutterinnen und Cutter, Produzentinnen und Produzenten sowie Redaktionen der erwähnten Filme nur äußerst selten genannt.
Mitunter ist das Buch auch nicht auf dem neuesten Stand. Zimmermanns Urteil über den zweiteiligen Dokumentarfilm „Olympia“ (1938) von Leni Riefenstahl, dem er eine „ausgefeilte Schnitt- und Montagetechnik“ und eine „dramaturgische Perfektion unter weitestgehendem Verzicht auf nationale und rassistische Einengungen“ konstatiert, bezieht sich offenkundig auf die Fassung, die Riefenstahl in den 1950er-Jahren in die Kinos brachte. Sie ist um viele Propagandaelemente gekürzt, wie sie die Fassung enthielt, die an Hitlers Geburtstag 1938 uraufgeführt wurde. Seit einigen Jahren ist die ursprüngliche Fassung aber über eine DVD-Sammlung vieler Olympia-Filme in der Criterion-Collection wieder zugänglich. Schaut man sich in dieser Sammlung Olympia-Filme an, die vor 1936 entstanden, relativiert sich auch das Urteil vom visuellen Erfindungsreichtum des Riefenstahl-Films. Denn viele Bildeinfälle dieses „brillantesten Sportfilms jener Zeit“ stammen nicht von Riefenstahl, die Zimmermann als „talentierteste Dokumentarfilmregisseurin“ bezeichnet, sondern wurden bereits vor ihr erprobt. Leni Riefenstahl hat sie lediglich aufgegriffen und unter den besten Produktionsbedingungen, die je einem Sportdokumentarfilm zugestanden wurden, professionell umgesetzt.
Ein Standardwerk
Die Lektüre des Buches wird durch eine Reihe von Wiederholungen und auch von Fehlern beeinträchtigt; um nur ein Beispiel zu nennen: Der Regisseur des Films „Der Erfolgsbericht“ (1983) wird zunächst als Thomas Koester benannt, um später als Stephan Kösters aufzutauen und endlich richtig als Stephan Köster bezeichnet zu werden. Dennoch bleibt das Buch eine verdienstvolle Arbeit, die man in Zukunft als ein Standardwerk sicher oft in die Hand nimmt.
Dokumentarfilm in Deutschland. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Von Peter Zimmermann. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2022. 398 Seiten, 264 teils farbige Abbildungen. Glossar. 7 EUR. Bezug: Bundeszentrale für politische Bildung.