In der Gebläsehalle der früheren Eisenwerk-Anlage im saarländischen Völklingen ist eine großangelegte Ausstellung zur gesamten deutschen Filmgeschichte eröffnet worden. „Der Deutsche Film - 1895 bis Heute“ bezieht in der einzigartigen Atmosphäre der Völklinger Hütte die erfindungsreichen Epochen und monumentalen Produktionen ein und lässt die Magie des Kinos hochleben. Doch auch die künstlerischen Innovationen vom Stummfilm bis zum aktuellen Film werden intensiv gewürdigt.
Die als Weltkulturerbe eingestufte Völklinger Hütte im Saarland ist ein einzigartiges Monument der von Eisen- und Stahlwerken geprägten Industrialisierung Ende des 19. Jahrhunderts. Schon oft als Location für Sonderausstellungen und Filmkulisse genutzt, wird sie nun mit der historischen Gebläsehalle bis August 2024 Schauplatz für die über 125-jährige Geschichte der deutschen Kinematographie. „DER DEUTSCHE FILM - 1895 bis Heute“ lautet der selbstbewusste Titel dieser in Kooperation mit der Deutschen Kinemathek in Berlin entstandenen umfangreichen Gesamtschau.
Auffällig sind beim Betreten der auf 6000 Quadratmetern ausgebreiteten Ausstellungsfläche der stark verdunkelte Raum und ein leicht penetrant-öliger Geruch. Man glaubt, die Ausdünstungen der gigantischen Stahlapparaturen, der riesigen Schwungräder und Rohrleitungen sowie den Schweiß der Arbeiter förmlich einzuatmen. Neben der audiovisuellen Präsentation entsteht ein spezieller Odorama-Effekt, eine Art Geruchskino. So stellt sich beim Museumsbesuch unwillkürlich ein dialektischer Dreiklang ein: die Kombination aus inhaltlicher Vermittlung, medienspezifischer Ästhetik und technischer Produktion.
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Kino-Schaulust zum Nachempfinden
Der empfehlenswerte Mediaguide bietet Musik und Dialoge zum jeweiligen Film, außerdem zeitgenössische Pressestimmen und hilfreiches Hintergrundwissen. Erfahrbar wird dadurch die Wirkung auf das Kinopublikum, die Atmosphäre, das Abenteuer der Schaulust.
Das Medium Film und sein Aufführungsort Kino stehen seit geraumer Zeit im Umbruch. Sind sie – ähnlich wie die gigantische Industriearchitektur und der Traum vom ungezügelten Wachstum – vielleicht bereits Relikt eines selten hinterfragten Fortschrittsglaubens. Und damit auch Warnung vor einer untergehenden Epoche.
Die Ausstellung im saarländischen Völklingen versteht sich als Einladung zum Flanieren durch eine singuläre Landschaft des deutschen Films – mit seiner internationalen Ausstrahlung in Bezug auf technische Erfindungen, künstlerische Qualitäten und höchste Produktionsstandards. Der in zehn Kapitel gegliederte Überblick reicht vom Wintergartenprogramm der Skladanowsky-Brüder im Jahre 1895 über den expressionistischen Stummfilm und das turbulent-innovative Kino der Weimarer Republik, die NS-Ära, die Nachkriegswehen in West und Ost bis zur Entwicklung nach der Wiedervereinigung in die Gegenwart. Es ist weniger ein chronologisches Panorama nationaler Kultur-, Zeit- und Industriegeschichte, als vielmehr eine Reflexion über Parallelitäten und Ungleichzeitigkeiten.
Abseits des Filmgeschichtskanons
Man erahnt in diesem einmaligen Ambiente der Völklinger Hütte die revolutionäre Kraft des Mediums Film. Die Auflösung des traditionellen, gutbürgerlichen Kunst- und Kulturbegriffs führte, begünstigt durch den „Kunst“-Film in der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts und im Gefolge des Ersten Weltkriegs, nach richtungsweisenden Filmen wie „Das Cabinet des Dr. Caligari“, „Nosferatu“ oder „Asphalt“ in die Welt der Neuen Sachlichkeit, des Alltagsrealismus. Im Zeichen der Weltwirtschaftskrise, der (großstädtischen) Dekadenz und ihrem Tanz auf dem Vulkan musste die Transformation vom Stumm- zum Tonfilm verkraftet werden. Das Narrativ vom gesicherten Kanon der Filmgeschichtsschreibung wollen die Kuratoren Ralf Beil und Rainer Rother mit der antizyklischen Aufbruchstimmung in Kunst und Gesellschaft thematisch reflektieren. Und das ist hervorragend gelungen!
Mehr als 350 Exponate und über neun Stunden bestens aufbereitetes, im Originalformat präsentiertes Filmmaterial aus der Kinemathek-Sammlung garantieren einen repräsentativen Querschnitt, vielleicht sogar eine Neu-Bewertung der gesamtdeutschen Filmgeschichte. Etwa 100 Projektionen auf Großleinwänden bieten exemplarische Ausschnitte wegweisender Produktionen. Dreißig Monitore ermöglichen Vergleiche von Prototypen und Nachahmern – etwa von „Das Cabinet des Dr. Caligari“ (1920) und „Edward mit den Scherenhänden“ (1990) oder „Die Abenteuer des Prinzen Achmed“ (1926) und „Harry Potter und die Heiligtümer des Todes“ (2010).
Immensen Eindruck hinterlassen die wunderbar in die Location integrierten Riesenplakate und Leinwandflächen. Man setzt auf die Magie des Kinos und dessen Eventcharakter. Starpostkarten aus allen Jahrzehnten belegen die Wechselwirkung von Marketing und Publikumsnachfrage. Seitenpfade der (gesamt)deutschen Filmgeschichte kommen da gelegentlich zu kurz.
Ein eigenes Kapitel für „Metropolis“
Fritz Langs aufwändig rekonstruiertem Science-Fiction-Klassiker „Metropolis“ (1927) ist ein eigenes Kapitel gewidmet. Die Gebläsehalle mit ihren überdimensionalen Maschinen und Schwungrädern fungiert als adäquater Raum für diese Vision. Die Monumentalproduktion ist in ihrer Transzendenz der Entstehungszeit zeitkritisches Dokument und Kunstprodukt zugleich: Ausdruck eines wiedererwachten deutschen Großmachtstrebens nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg; als man nach den Einschränkungen Anschluss an die großen Filmnationen finden wollte, nach dem Abwerben zahlreicher Fachkräfte durch die talentgierige Traumfabrik Hollywood.
Die visuelle Konzeption von „Metropolis“ korrespondiert auf verblüffende Weise mit der neoklassizistischen Architektur unter dem Faschismus. Der strenge, ornamentale Baustil gestattete durch seine fast sakrale Anmutung eine wirkungsmächtige Inszenierung von Plätzen und Aufmärschen. Diese Überwältigungsstrategie spiegelt sich in den NSDAP-Parteitagsfilmen einer Leni Riefenstahl wider.
Das aufregende Kostüm der Maschinen-Maria aus „Metropolis“ wurde für die Schau eigens nachgeschneidert, der Maschinenraum ist mit Filmszenen auf zwei Leinwänden nachempfunden, ein Modell der männlichen Hauptfigur Freder zeigt Unterstadt-Arbeiterkluft und Oberstadt-Kleidung. Die aufwändigen Zeichnungen von Erich Kettelhut und Aenne Willkomms sensationelle Kostümentwürfe ergänzen die Leistungen von Regie und Kamera. Ridley Scotts moderner Klassiker „Blade Runner“ zitiert – auf Monitorausschnitten sichtbar – die zeitlose Strahlkraft des Films.
Zwischen NS-Propaganda und jüdischem Schicksal
In ein Tiefgeschoss verbannt wurde dagegen der mit 27 Millionen Zuschauern kommerziell erfolgreichste NS-Film, die propagandistische Unterhaltungsproduktion „Die große Liebe“ (1942) mit Zarah Leander. Im Kontrast dazu: eine Filmbiografie mit bitterstem Verlauf, gewidmet dem jüdischen Schauspieler Kurt Gerron. Der Star aus „Der blaue Engel“ und G.W. Pabsts „Tagebuch einer Verlorenen“ floh 1933 vor den Nazis, fiel ihnen in Amsterdam in die Hände, wurde deportiert und zum Dreh des dokumentarischen Propaganda-Machwerks „Theresienstadt“ (oder: „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“) gezwungen und dann in Auschwitz ermordet.
Besonderes Augenmerk legt die Ausstellung auf oft vernachlässigte Gewerke der Filmproduktion, auf die Studioarbeit, die industriellen Fertigungsprozesse. Da steht eine Handkurbelkamera des Kamerapioniers Guido Seeber, von dem in einer Vitrine auch eine präzise Atelierzeichnung für die Bioskop GmbH zu sehen ist. Fehlen darf natürlich auch nicht die legendäre „entfesselte Kamera“ auf freischwingendem Gestell – von Karl Freund in „Der letzte Mann“ eingesetzt. Oder die Ski-Kamera von Sepp Allgeier für Arnold Fancks Schneedrama „Die weiße Hölle vom Piz Palü“.
Zu Recht wird verdienten weiblichen Filmschaffenden – vom Anfang der Filmgeschichte an – besondere Aufmerksamkeit gewidmet. So ist zum Beispiel Alice Guy-Blachés einminütiger Fantasyfilm „La fée aux choux“ von 1896 zu sehen. Die oft „eingedeutschte“ Dänin Asta Nielsen, erste wirkliche internationale Filmikone, wird mit der weltweiten Vermarktung von „Engelein“ (1914) auf einer Landkarte präsentiert. Marlene Dietrichs künstlerische wie private Extravaganz beherrscht das Umfeld des Exportschlagers „Der blaue Engel“. Über Hildegard Knef in „Die Mörder sind unter uns“ und „Die Sünderin“ führt eine Spur zur frühen feministischen Arbeit „Neun Leben hat die Katze“ (1968) von Ula Stöckl, zu „Die allseitig reduzierte Persönlichkeit – Redupers“ von Helke Sander, Margarethe von Trottas „Die bleierne Zeit“ bis zu „Systemsprenger“ von Nora Fingscheidt und Nicolette Krebitz’„Wild“.
Verschränkung von Ausstellungsort und -konzeption
Neben bundesdeutschen Meilensteinen wie Volker Schlöndorffs „Oscar“-Film „Die Blechtrommel“ oder Rainer Werner Fassbinders „Angst essen Seele auf“ unterstreichen Raritäten wie Veit Harlans NS-Vorbehaltsfilm „Der Herrscher“ (1937) – ein Stahlmagnat gibt sein Werk zugunsten der Volksgemeinschaft auf – die thematische Verschränkung von Ausstellungsort und -konzeption. Ähnlich gelungen ist die Gegenüberstellung von Ost- und Westfilmen. Da sind zwischen Georg Tresslers „Die Halbstarken“ und „Berlin – Ecke Schönhauser...“ von Gerhard Klein zahlreiche Parallelen zu entdecken.
Ein besonderes Highlight wartet am Ende der Schau: das im Stil der 1950er-Jahre eingerichtete Filmstudio. Dort wird das Filmset von „Mädchen in Uniform“ (1958) mit Romy Schneider und Lilli Palmer in den Hauptrollen zum Leben erweckt: der Nachbau des Klassenzimmers, die Originalkostüme der beiden Stars, Kameras auf Schienenwagen, ausgeleuchtet von originalen Scheinwerfern. Und passend dazu steht gegenüber ein Schreibtisch des legendären Filmproduzenten Artur Brauner, dessen Korrespondenzen zum Film in einer Vitrine nachzulesen sind.
Hinweise
Weltkulturerbe Völklinger Hütte: DER DEUTSCHE FILM - 1895 bis Heute. Bis 18. August 2024. Geöffnet: täglich von 10-19 Uhr. 2. November bis 31. März von 10-18 Uhr (außer 24., 25., 31. Dezember).
Ein Ausstellungskatalog erscheint im Sandstein Verlag Dresden.
Als Ergebnis mehrjähriger Forschung der Deutschen Kinemathek Berlin erscheint zudem zu einem späteren Zeitpunkt ein opulent bebilderter 900-Seiten-Band zum Thema.