Der 1965 in Tennessee geborene Filmemacher Ira Sachs hat sich vor allem mit seinen in New York spielenden Werken einen Namen gemacht, die sich zwischen autobiografischen Elementen und Referenzen an die Filmgeschichte verorten lassen. Liebesgeschichten, soziale Gegensätze und die Frage nach den Grenzen der Freiheit durchdringen seine Filme wie aktuell das in Paris spielende Drama „Passages“. Die Aufmerksamkeit für Details macht seine Filme dabei so seltsam wie schön.
„Es ist seltsam, wie sehr sich die Kultur bemüht, Liebe auf etwas Simples zu reduzieren.
Die Geschichte der Literatur ist die Geschichte der Liebe.
Liebe fordert Tausende und Abertausende von Seiten.“
(Ira Sachs)
Tomas (Franz Rogowski) ist ein unreifes Kind. Ein Süchtiger, der nie genug haben kann. Aber auch ein Verführer, der die Liebe an sich reißt, bis sie ihm gehört. Nur kann in der Dreiecksbeziehung zwischen ihm, seinem Freund Martin (Ben Whishaw) und der Lehrerin Agathe (Adèle Exarchopoulos) eben nicht alles ihm gehören. Er pendelt zwischen den beiden wie eine Abrissbirne. Die Liebe gerät permanent außer Kontrolle; er lässt keiner Beziehung, so offen, dynamisch und flexibel sie auch sein mag, eine Chance, sie einzufangen.
Es ist die Liebe, die den US-amerikanischen Regisseur Ira Sachs interessiert. Und zwar diejenige, die so groß ist, dass man sie nie erreichen, aber auch nicht von ihr lassen kann. Sachs gewährt dieser Energie in „Passages“ (2023) viel Freiraum, die Rogowski als dieser Tomas auf die Leinwand bringt; er ist aber auch abgeklärt genug, die Kollision dieser Kräfte mit den komplizierten, aber auch komplexen Beziehungsverhältnissen aufzufangen.
Tomas ist die treibende Kraft von „Passages“; sein Begehren gibt die Richtung vor. Die Intentionen von Sachs sind dabei weniger darauf gerichtet, dies zu lenken. Er richtet den Blick vielmehr auf jene, die damit in Berührung kommen und von Liebe und Begehren gefangen werden. Die Dreiecksbeziehung ist eine für Ira-Sachs-Filme typische Konstellation. Alle Beteiligten sind auf den Beziehungsstatus „Es ist kompliziert“ festgenagelt. Die Kreise, die Liebe und Begehren drehen, führen alle voneinander weg und zugleich aufeinander hin. Oft enden diese Zyklen nicht an klaren Trennlinien, sondern dort, wo das Begehren nicht aufhört, obwohl man ihm nachgegeben hat, dort, wo die Liebe ein weiteres Mal neu ausgehandelt werden will.
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Die Fragilität des Liebeslebens
In „Keep the Lights On“ (2012) scheint die Zeit innerhalb dieser Zyklen stillzustehen. Jahre vergehen in den Ellipsen, die der Film immer wieder einstreut. Jahre, in denen der Protagonist Erik (Thure Lindhardt) weiter seine Liebe in die Beziehung pumpt, während sein Freund Paul (Zachary Booth) zunehmend in die Drogensucht abrutscht. Ein Prozess, der erst durch seine Länge die ganze Fragilität des Liebeslebens offenbart. Sachs’ Filme sind um diese Fragilität gebaut. Oft ist sie eine fiktionalisierte Version der Brüchigkeit des eigenen Lebens. „Keep the Lights On“ ist der erste Film, mit dem Sachs ganz zu sich selbst, zu seinem langjährigen Co-Autor Mauricio Zacharias und dem für sein Werk so prägenden New York findet.
Es ist das New York einer befreiten, aber zugleich von der Aids- und Drogenepidemie heimgesuchten Gay Community, auf das „Keep the Lights On“ zurückblickt. Zugleich ist es Teil von Sachs eigenem Leben, das hier aus der Distanz der Erinnerung betrachtet wird. Die Beziehung zwischen Erik und Paul ist eine Art fiktionale Erinnerung an Sachs’ Beziehung zu dem Autor Bill Clegg. Der Film ist aber auch deshalb eine Erinnerung, ein flüchtiges Mosaik, weil die über eine Dekade zwischen Make-Up und Break-Up stattfindende Beziehung eben nicht ein lückenloses Gesamtbild ergibt, sondern sich in vielen kleinen Momenten zusammenträgt. Eine Erinnerung, die nie ganz gehen möchte.
Am Anfang von Sachs’ Filmschaffen steht eine andere Erinnerung. In Memphis, Tennessee, am Delta des Mississippi, dieser so fruchtbaren, von einer blutigen Historie heimgesuchten Region, wuchs Sachs im US-amerikanischen Süden auf. Anders als seine autobiografisch und geografisch fest verankerten, souveränen und elegant erzählten New-York-Filme ist „The Delta“ (1996) die fiebrige, libidinöse Coming-of-Age-Geschichte eines Filmschaffenden. Wie das Delta, nach dem er benannt wurde, bewegt sich der Debütfilm zwischen den Zuläufen und Strömungen des Flusses.
Es ist die einzige Coming-out-Geschichte im so reichhaltigen Œuvre des Filmemachers. Eine Erzählung, in der sich spätere Strömungen und die mit ihnen verbundenen Stimmungen schon andeuten, aber noch keine konkrete Richtung gefunden haben. „The Delta“ erzählt von sexuellen Abenteuern zwischen Cruising, Drogentrips und Ausflügen in die einzigartige Flora der Region. Die Geschichte um Lincoln (Shayne Gray) und seinen Liebhaber John (Thang Chan) lässt sich retrospektiv als künstlerische Selbstwerdung, aber auch als Akt der Befreiung lesen, mit dem Sachs den US-Süden hinter sich lässt.
Über schöpferische Umwege nach New York
Im schwulen und kulturbürgerlichen New York kommt Sachs über schöpferische Umwege an. „Married Life“ (2007) spielt zwar bereits in New York, doch die in die 1940er-Jahre verlagerte „Comedy of Manners“ steht allzu brav zwischen sanfter Satire, Ehedrama und fieser Komödie. Die Sprünge der Upper-Class-New-Yorker von der Ehe zur Affäre und von der Affäre zurück zur Ehe sind elegant vollführt, aber zu weit in die Distanz der Geschichte verschoben. New York ist hier noch nicht der persönlich geprägte Raum, dessen Geografie und Gentrifizierung auf eigentümliche Weise mit dem Leben verkoppelt sind.
Das eigentliche New-York-Œuvre beginnt in der Handlung von „Keep the Lights On“ in den späten 1990er-Jahren, und setzt sich im tonal deutlich zuversichtlicheren Film „Liebe geht seltsame Wege“ (2014) in der Gegenwart fort. Der Film um ein altes schwules Ehepaar bildet ein Gegenbild zur tragischen, in der Erinnerung eingefangenen Liebesgeschichte. Er habe beim Schreiben das erste Mal eine Art Glauben an die Liebe verspürt, sagte Sachs in einem Interview. Entsprechend unerschütterlich erscheint die Beziehung zwischen Ben (John Lithgow) und George (Alfred Molina). Man erwacht mit den Männern an dem Tag, der ihre langjährige Beziehung offiziell besiegeln soll. Es folgt die bittere Ironie, die den Film ins Rollen bringt: Die Hochzeit zwingt das Paar nach einer in jeder Szene spürbaren Ewigkeit zur Trennung. Die katholische Hochschule, an der George Musik unterrichtet, setzt den nun offiziell Homosexuellen vor die Tür. Die Wohnung ist nicht mehr bezahlbar. Ben und George kommen fortan getrennt voneinander bei Freunden und Familie unter.
„Liebe geht seltsame Wege“ zeigt ein enormes Gespür nicht nur für jene Banalitäten, in denen sich ein über Jahrzehnte geteiltes Leben verbirgt, sondern eben auch dafür, wie gesellschaftliche Realitäten ein Leben formen. Sachs’ Filme machen sich keine Illusionen, dass die Freiheit eben immer nur dort stattfindet, wo die Gesellschaft ihr Platz lässt. So ist selbst das wohl bildungsbürgerlichste Ehepaar des ultraliberalen New Yorks eben nur so lange frei, bis es die gleichgeschlechtliche Ehe eingeht. Kaum ist diese offiziell, bleibt es ihnen verwehrt, nebeneinander aufzuwachen und zusammen schlafen zu gehen. In einer der schönsten Szenen des Films landen die beiden schließlich im Stockbett des Neffen unter der gleichen Bettdecke. Dass das Jugendbett ihr Gewicht wahrscheinlich nicht tragen wird, wissen beide. Das bleibt erstmal eine Sorge für morgen.
Das Große im Kleinen
Sachs nimmt die Prämissen seiner Filme, die auf dem Papier so verkopft und bleiern wirken, beiläufig mit. Nie wird hier didaktisch vorgetragen oder ausführlich diskutiert. Das Große im Kleinen gehört nicht dem Diskurs, sondern immer dem Affekt. Die Jungs in „Little Men“ (2016) überbrücken die Distanz zwischen ihren Elternhäusern, die zugleich die Distanz zwischen Gesellschaftsklassen ist, mit Enthusiasmus. Genau 12 Minuten und 23 Sekunden brauchen sie vom Bekleidungsgeschäft der einen Mutter zur Wohnung der anderen Familie, die die Immobilien soeben geerbt hat. Während der Konflikt zwischen den Erwachsenen um Mietpreise weiter eskaliert, schlagen die Kinder in diesen zwölf Minuten, die ihnen der Film schenkt, Zeit für ihre Freundschaft heraus, genießen das Rennen – nicht als Wettkampf, sondern als Freiheit des Zusammenseins.
Der
Klassenkampf wird in „Little
Men“
nicht als gesellschaftliches Großereignis präsentiert, in dem das Proletariat
sich gegen die Bourgeoisie aufrichtet.
Es sind Nickeligkeiten, Missverständnisse und passiv-aggressive Spitzen, mit
denen sich die Erwachsenen beharken. Ihre Mittelstand-Existenzen trennen sich
allein dadurch in Arm und Reich, dass die einen erben und die anderen Miete zahlen
müssen. Von den Teenager-Söhnen
zur Räson bringen lassen sie sich nicht.
Ira Sachs geht es dabei weniger um Gerechtigkeitsfragen oder den Ausgang des Streits. „Little Men“ hängt sich vielmehr ans Leben, an die seltsamen und schönen Dinge, die passieren, während man glaubt, mit anderen Dingen beschäftigt zu sein. Momente, die die konstruierten Szenarien stillstellen, die Sachs seit „Keep the Lights On“ als elegante Verkomplizierungen der eigenen Biografie entwirft.
Die dazwischengeschalteten Augenblicke öffnen stets einen besonderen Raum für Performance. Ob in der Tragik, mit der Thure Lindhardt als Erik in „Keep the Lights On“ alles, was Körper, Seele und die eigene Naivität an Liebe hergeben können, in die scheiternde Beziehung pumpt, wieder und wieder seine Hand ausstreckt und auch dort stoisch verharrt, wo der Geliebte seinen Körper verkauft, um den nächsten Hit finanzieren zu können. Oder in der Ekstase, mit der die Kinder in „Little Men“ durch New York rasen und Franz Rogowski in „Passages“ in die Pedale tritt und durch Paris hetzt, während er allen anderen die Vorfahrt nimmt. Diese Momente sind auch deshalb besonders, weil Sachs sie so präzise einzuschieben weiß. Als die von Rip Torn in „Forty Shades of Blue“ (2005) gespielte Vaterfigur (die zugleich eine Variante von Sachs eigenem Vater ist) im Musikstudio einer Nichtigkeit wegen einen Koller bekommt, dreht ihm sein Sohn (Darren E. Burrows) per Knopfdruck einfach den Ton ab. Als der Sprössling das ödipale Beziehungsdreieck zwischen ihnen und Laura (Dina Korzun), der jungen Ehefrau des Vaters, wenig später mit einer ähnlichen Tirade in die Eskalation zu treiben gedenkt, schiebt Sachs ihn wie den Vater und ihre Rivalität fast unmerklich aus dem Film, um sich Laura zuzuwenden, der interessantesten und enigmatischsten Figur des Films.
Der souveräne Cineast
Derart sanfte, aber bestimmte Verschiebungen sind typisch für das Kino von Ira Sachs. Nebenfiguren treten beiläufig in den Vordergrund und kleine, idiosynkratische Spielereien gären im Hintergrund, um sich schließlich ganz sanft als Liebesbeweise zu offenbaren. Marisa Tomei wird als Nichte in „Liebe geht seltsame Wege“ zur Chefdiplomatin, die gleichermaßen zwischen dem Teenager-Sohn, dem gestrandeten Onkel und dem überarbeiteten Ehemann vermitteln muss und nebenbei ihren nächsten Roman in die Schreibmaschine tippt. Immer dann, wenn sich der Film einer neuen Figur oder einer neuen Dynamik zuwendet, gewinnt er auch eine neue Perspektive. Die Souveränität dahinter strahlt einen Hauch vom Pre-Code-Hollywood aus, dem Ira Sachs als Filmemacher ebenso nacheifert wie dem New Hollywood der 1970er-Jahre.
Überhaupt lassen Sachs’ Filme immer auch den Cineasten durchscheinen. „Little Men“ ist eine Romanadaption, die sich aber zugleich fast ebenso viel bei Ozus „Ich wurde geboren, aber ...“ (1932) leiht. Mit „Charulata“ (1964) und „Kanchenjungha“ (1962) hat er gleich zwei Filme von Satyajit Ray adaptiert. Die „Charulata“-Anleihen sind in „Forty Shades of Blue“ auch durch die sehr persönliche Färbung zu erkennen. „Frankie“ (2019) hingegen geht als Quasi-Remake von Rays „Kanchenjungha“ durch.
Der Regisseur selbst nennt sein Filmemachen, nach Harold Blooms Theorie der „Anxiety of Influence“, einen ödipalen Kampf zwischen ihm, dem Künstler und seinen Idolen. Die deutlichste filmhistorische Prägung für Sachs ist und bleibt dabei das französische Kino. Die Sanftheit und oft ignorierte Erotik von Éric Rohmer finden sich hier ebenso wie die Intensität eines Maurice Pialat und das Leiden und die Leidenschaft von Chantal Akerman. Strukturell am nächsten ist Sachs nicht zuletzt an zeitgenössischen französischen Filmemacherinnen wie Mia Hansen-Løve, deren Kino ebenfalls um Biografien gebaut ist, deren Brüchigkeit nicht in der Zuspitzung, nicht im großen Drama, sondern der Pause dazwischen, in der sanften Verschiebung sichtbar wird, mit der Liebe reift und vergeht.