Mit vier „Oscars“ für „Im Westen nichts Neues“, unter anderem als bester internationaler Film, wurde bei der Verleihung der Academy Awards auch das deutsche Filmschaffen gewürdigt. Der große Gewinner des Abends war hingegen das aberwitzige Multiversum-Spektakel „Everything Everywhere All at Once“, das unter anderem als bester Film geehrt wurde. Dessen Stars sorgten zudem für emotionale Glanzpunkte der Gala.
Am Ende erst einmal durchatmen. Nachdem bei der feierlichen 95.
„Oscar“-Verleihung immer wieder eine merkliche Anspannung zu spüren war, ist
dem Moderator Jimmy Kimmel stellvertretend für alle Beteiligten die
Erleichterung anzusehen. Der Gang von der Bühne führte an einem Brett vorbei,
an dem Kimmel bei „Zahl der Oscar-Übertragungen ohne Zwischenfall“ ein Blatt
mit einer aufgedruckten Null auf eines mit einer Eins ändert. Ein vorbereiteter
und vielleicht auch erwartbarer Scherz, der aber hintergründig an die ernsten
Fragen hinter der fröhlichen Gala gemahnt, die bei der Vergabe der „Academy
Awards“ Jahr um Jahr angestrebt wird.
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„Hauptsache diesmal keinen Eklat!“, muss eine der Devisen der Academy of Motion Picture Arts and Sciences für die Feier 2023 gelautet haben: Keine vertauschten Umschläge wie bei der 2017 ebenfalls von dem Late-Night-Comedian Jimmy Kimmel moderierten Verleihung, kein gewaltsamer Übergriff wie 2022 mit Will Smiths Angriff gegen Chris Rock. Vor allem aber keine Wiederholung des einzigartigen (und hoffentlich einmaligen) Affronts gegen Vertreter bestimmter Filmgewerke, deren Kategorien 2022 bei der Fernsehübertragung ausgeklammert und damit gleichsam zu Arbeitsfeldern zweiter Klasse degradiert worden waren.
Diese Wünsche gingen dann alle in Erfüllung, da die Gala offensichtlich noch sorgfältiger geplant wurde und die einengenden TV-Vorgaben nicht zum Nachteil der Show ausfielen. Die dreieinhalbstündige Veranstaltung präsentierte sich professionell und kurzweilig als umfassende Feier der Filmbranche. Zudem gelang auch die Wiedergutmachung für einen weiteren Fauxpas von 2022, indem bei der Einführung in die Animationsfilm-Kategorie nicht eine anachronistische Annahme von begeisterten Kindern und enervierten Erwachsenen heraufbeschworen wurde, sondern die Vielfalt der Animationskunst angemessen gewürdigt wurde. Um es mit „Guillermo del Toro’s Pinocchio“ dann auch einen Gewinner gab, der sich mustergültig an ein Publikum über alle Altersgruppen hinweg richtet.
Sieben „Oscars“ für „Everything Everywhere All at Once“
Mit der emotionalen Dankesrede von Guillermo del Toro setzte die Show bereits zu Beginn ein Zeichen für den Tonfall des Abends, der immer dann besonders Fahrt aufnahm, wenn jener Film in den Fokus rückte, der zum eindeutigen Gewinner der 95. „Oscar“-Vergabe avancierte: Für „Everything Everywhere All at Once“ standen am Ende sieben „Oscars“ zu Buche, wobei mit der Kombination Film-Regie-Drehbuch plus drei Darsteller-Preisen ein noch nie erreichter historischer Markstein gesetzt wurde (der siebte Preis ging an den aufwändigen Schnitt des einfallsreichen Multiversum-Spektakels).
Damit trafen die Academy-Mitglieder zwar keine völlig unerwartete
Entscheidung, da sich der Film von Daniel Scheinert und Daniel Kwan vom Start
weg bei Kritikern wie dem Publikum gleichermaßen zum Phänomen entwickelte und
mit elf Nominierungen auch als Favorit in die „Oscar“-Wahl gegangen war. Mit so
viel Eindeutigkeit war dennoch nicht unbedingt zu rechnen gewesen, da „Everything
Everywhere All at Once“ als ein nicht in einer einzigen Genrekategorie zu
fassendes Werk ein allzu schillernder Exot ist. Nun aber wurde der Film zum
Pionier, der den drei bislang bei den „Oscars“ stiefmütterlich behandelten Genres
des Action-, Science-Fiction- und Martial-Arts-Films unisono den jeweils ersten
Gewinner in der Königsdisziplin des besten Films bescherte.
Das ist ein erfreulicher Nebeneffekt, allerdings wahrscheinlich nicht der entscheidende Grund für den Triumph von „Everything Everywhere All at Once“. Eher darf man dahinter die universelle Kraft eines Films vermuten, der in seinem Szenario um Parallelwelten und korrigierte Schicksale von den Ängsten vor einem Dasein inmitten eines bedrohlichen Chaos erzählt, wie sie seit der Corona-Pandemie und dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine wieder allgegenwärtig sind.
Die tröstliche Botschaft des Films, der hinter dem überbordenden Ideenreichtum eine im Grunde sehr einfache Geschichte um eine dysfunktionale Familie erzählt, mag die Wahl der Academy-Mitglieder beeinflusst haben, die sich nicht zuletzt bei der „Oscar“-Verleihung gerne ähnlich sehen wollen: Hollywood als große Familie, in der zwar auch mal unterschiedliche Vorstellungen aufeinanderprallen und die Fetzen fliegen, was aber nichts daran ändert, dass letztlich alle bemüht sind, an einem Strang zu ziehen.
Die Stars sorgten für außergewöhnlichen Schwung
Für die Gala erwies sich „Everything Everywhere All at Once“ auch
deshalb als idealer Gewinner, weil sämtliche Preisträger dieses Films den Abend
mit außergewöhnlichem Schwung bereicherten. Das betraf neben dem
sympathisch-nerdhaften Duo Scheinert/Kwan insbesondere die drei prämierten
Darsteller, die in ihren Dankesreden auf ihre jeweils individuellen Historien
anspielten – die in Malaysia geborene Chinesin Michelle Yeoh auf
den mühseligen Aufstieg vom Hong-Kong- ins Hollywood-Kino, die einstige „Scream
Queen“ Jamie Lee Curtis auf ein nicht weniger hartes Ringen um
Rollen in ihrem späten Karrierefrühling, vor allem aber Ke Huy Quan,
der einst in den 1980er-Jahren mit „Indiana Jones und der Tempel des Todes“ und
„Die Goonies“ zum Kinderstar geworden war, aber als junger Erwachsener kaum
noch Rollen erhielt. Daraufhin brach er seine Schauspiel-Laufbahn ab und kehrt
erst aufgrund der ermutigenden Signale für eine stärkere Wahrnehmung
asiatisch-stämmiger Charaktere im US-Kino wieder zurück.
Dass Ke Huy Quan auf der Bühne des Dolby Theaters zunächst kaum Worte finden konnte, war nur allzu nachvollziehbar. Vergleichbar überwältigt zeigte sich auch der Gewinner des „Oscars“ für den besten Hauptdarsteller, Brendan Fraser, der als fettleibiger homosexueller Lehrer in „The Whale“ gewann. Auch auf seinen Erfolg hätte vor einem Jahr wohl noch niemand gesetzt. Zu lange lagen die populären Komödien und Abenteuerfilme des Darstellers, aber auch die Beweise seines Talents in „Gods & Monsters“, „Der stille Amerikaner“ oder „L.A. Crash“ zurück; nach einer Kinopause von sechs Jahren war Fraser erst seit 2019 wieder vereinzelt auf der Leinwand zu sehen gewesen.
Anerkennung für das deutsche Filmschaffen
Neben dem strahlenden Erfolg von „Everything Everywhere All at Once“ ging etwas unter, dass die „Oscars“ in diesem Jahr eine spannende Konkurrenz mit weiteren intelligenten, auf komplexe Figuren und Szenarien setzenden Filmen aufboten. Denn auch das Dirigentinnen-Drama „Tár“ mit Cate Blanchett, Steven Spielbergs autobiografische Kino-Hommage „Die Fabelmans“ und Martin McDonaghs tiefschwarze Erkundung der menschlichen Fähigkeit, einander das Leben schwerzumachen, in „The Banshees of Inisherin“ hätten die höchsten Preise verdient gehabt; sie gingen am Ende aber allesamt leer aus. Gleiches widerfuhr auch Baz Luhrmanns bombastischer „Elvis“-Annäherung, die allerdings angesichts ihrer vielen inhaltlichen Schwachstellen das größte Fragezeichen in der „Oscar“-Auswahl gewesen war.
Weniger erschlossen hatte sich die Berücksichtigung des deutschen Films „Im Westen nichts Neues“ von Edward Berger in gleich acht Kategorien in Ergänzung zu der des „Besten internationalen Films“, welche der Kriegsfilm letztlich ebenso gewann wie die Preise für Kamera, Produktionsdesign und Musik. Zwar sind die Nominierungen und Preise zumindest insofern begrüßenswert, weil sie mehr Aufmerksamkeit für die Qualitäten deutscher Filmschaffender versprechen. Doch bleibt Bergers Neuverfilmung des Stoffs ein zwiespältiges Werk mit viel vordergründiger Drastik, aber ohne klare Haltung zum Krieg, das nicht zuletzt der klassischen US-Adaption von 1930 nicht das Wasser reichen kann.
„Im Westen nichts Neues“ drängte sich für die gewonnenen Preise mithin nicht gerade auf, sodass sich bei den Technikauszeichnungen insgesamt eine gewisse Beliebigkeit einstellte. Beim Make-up & Hairstyling war „The Whale“ der naheliegende Gewinner, die Auszeichnungen für Ton und Spezialeffekte wanderten pflichtschuldig an die Kassenschlager „Top Gun Maverick“ beziehungsweise „Avatar: The Way of Water“. Diese traten innerhalb der Gala ansonsten allerdings kaum hervor, was deren Macher wohl geahnt haben dürften. Jedenfalls konnte Jimmy Kimmel schon in seinem Eröffnungsmonolog verkünden, dass sowohl „Top Gun“-Star Tom Cruise als auch „Avatar“-Schöpfer James Cameron der Veranstaltung ferngeblieben waren.
Das ließ sich verschmerzen, zumal Kimmel es größtenteils verstand, die traditionellen Qualitäten eines „Oscar“-Moderators aufleben zu lassen, etwa indem er den Kontakt auch mit den nicht-nominierten oder prämierten Gästen des Abends suchte und Steven Spielberg, den „Banshees“-Darstellern um Colin Farrell und Brendan Gleeson, aber auch Schauspiel-Veteranen wie dem 88-jährigen „Fabelmans“-Darsteller Judd Hirsch oder dem 94-jährigen James Hong (als Teil des „Everything Everywhere All at Once“-Ensembles) und seiner fast 70-jährigen Karriere Respekt zollte.
Mit der eigenen Geschichte tut sich die Academy schwer
Ein wenig mehr davon hätte auch den Gestaltern des diesjährigen „In memoriam“-Tributs angestanden, deren Erinnerung an verstorbene Filmschaffende peinliche Lücken enthielt. Unter 58 Namen mit Carlos Saura einen der bedeutendsten spanischen Regisseure und mit Jean-Louis Trintignant einen der wichtigsten europäischen Schauspieler des 20. Jahrhunderts auszulassen, ist im Grunde unentschuldbar. Bei allem Verständnis dafür, auch kreative Köpfe im Hintergrund zu würdigen, kamen insbesondere jene verstorbenen Schauspielerinnen und Schauspieler viel zu kurz, die sich oft über Jahrzehnte in den Dienst Hollywoods gestellt haben: markante Nebendarsteller:innen wie Melinda Dillon, Philip Baker Hall, Anne Heche, Nehemiah Persoff, Henry Silva, Paul Sorvino, Fred Ward, David Warner oder Kenneth Welsh, die etlichen US-Filmen ihren Stempel aufgedrückt haben, aber für die „In memoriam“-Auswahl nicht berücksichtigt wurden.
Mit der eigenen Geschichte tut sich die Academy anscheinend etwas schwer, was einen dezenten Misston in die an sich gelungene Show brachte. In deren routinierter Abfolge wäre auch etwas mehr Verspieltheit nicht verkehrt gewesen, wie sie in den Einlagen von Jimmy Kimmel nur vereinzelt aufblitzte und in der Idee, die Spezialeffekte mit einem Menschen im Bärenkostüm (als Beleg für die Notwendigkeit „guter“ Effekte) neben der Laudatorin Elizabeth Banks zu präsentieren, einen immerhin hinreichend originellen Einfall hervorbrachte. Angemessen ernsthaft fiel dafür die Auszeichnung für den Dokumentarfilm „Nawalny“ aus, bei der Alexej Nawalnys Frau an das Schicksal des inhaftierten russischen Oppositionspolitikers erinnerte.
Alles in allem stimmte der Tonfall der 95. „Oscar“-Verleihung jedoch, zumal die Wahl des Gewinners die Gräben zwischen der Academy und dem „normalen“ Publikum ein wenig überbrücken dürfte. Hatten die „Academy“-Mitglieder sich 2022 noch mit „Coda“ für einen Film entschieden, der (wenn auch Corona-bedingt) von seiner Premiere beim Online-Sundance-Festival bis zur Auswertung bei AppleTV+ quasi nur unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu sehen war, ist „Everything Everywhere All at Once“ ein Kinofilm durch und durch, der sein verdientes Publikum gefunden hat. Seine Auszeichnung ist ein unmissverständliches Signal für die Zukunft des Kinos, wie es von der Academy of Motion Picture Arts and Sciences seit Jahren erhofft worden ist.