© Arsenal – Institut für Film und Videokunst e.V. (aus "High School II")

Filmklassiker: Frederick Wisemans „High School“-Filme

Entdeckungen und Reflexionen anhand einer Neusichtung der Filme „High School“ und „High School II“ von Frederick Wiseman anlässlich einer Retrospektive des US-Dokumentaristen im Kino Arsenal in Berlin (4.5.-29.5.2022)

Veröffentlicht am
23. Mai 2022
Diskussion

Als Bildungsstätten für Kinder und Jugendliche sind Schulen die Keimzellen ihrer Gesellschaften. Auch deshalb hat sich der US-Dokumentarist Frederick Wiseman immer für sie interessiert. Unter seinen legendären Institutionen-Porträts finden sich auch zwei Filme über High Schools, entstanden 1968 und 1994. Trotz ihrer methodischen Verwandtschaft sind es aber zwei sehr unterschiedliche Filme, schon allein wegen der Zeithintergründe, die in sie hineinwirken.


Das Lied verschwindet zwischen den beiden Filmen. Frederick Wisemans Frühwerk „High School“ (1968), die zweite Regiearbeit des damals 38-jährigen Dokumentaristen, beginnt mit einer Kamerafahrt durch die Straßen Philadelphias, die von Otis Reddings Song „(Sittin' On) The Dock of the Bay“ unterlegt ist. Einerseits ist das ein bloßer Prolog, der einem Film vorangestellt ist, der die offene Straße bald hinter sich lässt und fortan komplett in den Räumlichkeiten der örtlichen Northeast High School spielt; anderseits aber passt dieser beschwingte Beginn zu einem Film, der von einer Aufbruchsstimmung beseelt ist, deren konkreten Inhalte oder Ziele nicht immer genau auszumachen sind. Tatsächlich schlagen sie sich weniger in dem nieder, was die Schule den Kindern beibringt, als in der langsam heranreifenden Erkenntnis, dass die Lehrinhalte und vielleicht noch mehr die Art und Weise ihrer Vermittlung der rapide sich verändernden Welt, in die die Schule eingebettet ist, oft nicht mehr angemessen sind.


Das könnte Sie auch interessieren:


Ein Bogen von 1968 in die 1990er-Jahre

26 Jahre später, in „High School II (1994), legt sich kein Song über die diesmal statischen Straßenansichten, die den Film eröffnen. Die Kamera befindet sich nicht mehr in Philadelphia, sondern in Harlem, New York, und der Aufbruch, der im älteren Film lediglich angedeutet war, hat sich längst vollzogen. Was aber nicht heißt, dass das US-amerikanische Schulsystem, das Wiseman in beiden Filmen untersucht, oder auch das Land, in dem es angesiedelt ist, irgendwo wirklich angekommen ist. Vielleicht ist der Aufbruch sogar gescheitert, oder scheitert laufend neu, mit jedem Anlauf. Und doch hat sich zwischen „High School“ (1968) und „High School II“ (1994) etwas verändert, und vielleicht ist das verschwundene Lied ein Symptom dieser Veränderung. Man könnte zum Beispiel fragen: Ist das Lied nicht mehr da, weil die Hoffnung, für die es steht, nicht mehr existiert? Oder, im Gegenteil, weil das Lied nicht mehr als Substitut benötigt wird, da die Hoffnung inzwischen, wie auch immer vermittelt und gebrochen, ins System selbst eingewandert ist?

"High School" (1968) (© Arsenal – Institut für Film und Videokunst e.V)
"High School" (1968; © Arsenal – Institut für Film und Videokunst e.V)


Die äußeren, gesellschaftlichen Umstände, die in beide Filme hineinwirken, ähneln sich durchaus. Im ersten „High School“-Film sieht man gegen Ende die schockierten Reaktionen von Schüler:innen auf die Ermordung Martin Luther Kings am 4. April 1968. Schlagartig geraten Konfliktlinien in den Blick, die in der bisherigen Rekonstruktion des schulischen Alltags höchstens angedeutet waren. In einer Diskussionsveranstaltung meldet sich ein schwarzer Schüler zu Wort und attackiert mit scharfen Worten das ideologische Selbstverständnis der Schule, die in der großen Mehrheit von Weißen besucht wird und die kein Verhältnis finde zu den sozialen Kämpfen um sie herum. Er schätze die Institution als eine Lernanstalt, sagt der Schüler, aber: „Morally, this school is a garbage can“.

High School II“ hingegen steht im Zeichen der juristischen und allgemein gesellschaftlichen Nachwirkungen eines Falls von Polizeigewalt. Im Jahr 1991 hatten Polizeibeamte in Los Angeles den unbewaffneten Schwarzen Rodney King brutal zusammengeschlagen. Ein Jahr später wurden dieselben Beamten vor Gericht freigesprochen, was tagelange Ausschreitungen in Los Angeles, landesweite Protestwellen sowie weitere Prozesse nach sich zog, die 1994, zum Zeitpunkt der Dreharbeiten, die Menschen immer noch in Atem halten.

Anders als die Ermordung Martin Luther Kings im ersten „High School“-Film werden die Folgen der Rodney-King-Prozesse diesmal nicht nur in einzelnen Szenen verhandelt, sondern prägen den Film beinahe in seiner Gesamtheit. Das hat mit einem veränderten Diskussionsstand auf nationaler Ebene zu tun, aber vermutlich noch mehr damit, dass die Central Park East Secondary School, in der Wiseman sein zweites Schulporträt filmt, mehrheitlich von schwarzen und lateinamerikanischen Schüler:innen besucht wird. Und sich auch damit, dass zwar nicht mehr wie im ersten Film alle, aber doch die meisten Lehrer Weiße sind.

"High School II" (1994) (© Arsenal – Institut für Film und Videokunst e.V)
"High School II" (1994; © Arsenal – Institut für Film und Videokunst e.V)


Tatsächlich stand die Central Park East Secondary School in den 1990er-Jahren im Ruf einer Modellschule mit einer neuen Form des Lernens, das nicht mehr auf unidirektionale Wissensvermittlung abstellt, sondern die Schüler:innen zu selbstorganisiertem, kritischen Denken anleiten will. Man darf davon ausgehen, dass der erstaunlich egalitäre, die einzelnen Lernenden nicht als Kollektiv, sondern als Individuen adressierende Unterrichtsstil, den Wisemans Kamera mit ihrer charakteristischen Geduld in Echtzeit über oft mehr als zehn Minuten hinweg festhält (das ist der vielleicht prägnanteste Unterschied zwischen den beiden Filmen: die Laufzeit, 75 knappe Minuten der erste, ausladende 220 Minuten der zweite Film), im Jahr 1994 keineswegs an allen US-Schulen Standard war. Dasselbe gilt für die ebenfalls durchweg auf Augenhöhe geführten Diskussionen innerhalb des Lehrkörpers, die im Bewusstsein der Grenzen ihrer eigenen Handlungsmacht Sachzwänge und pädagogische Ideale abwägen.


Ideale einer Modellschule vs. Sachzwänge

Das Ideal, dem sich die Central Park East Secondary School (jedenfalls im Jahr 1994) verpflichtet fühlt, besteht darin, die innerinstitutionellen Entscheidungsprozesse wie auch die Lehrmethoden auf allen Ebenen transparent, demokratisch und, soweit der Sache angemessen, auch pluralistisch zu handhaben. Auch wenn dies gelegentlich eben doch in Konflikt gerät mit dem Zwangscharakter, der einer Schule immer innewohnt. Das blitzt in einer eher kurzen, zwischen den teilweise regelrecht epischen Unterrichtsausschnitten leicht zu übersehenden Szene auf, die vor einem Klassenraum spielt. Ein Lehrer versucht, einen Schüler, der die Klasse verlassen hat, dazu zu überreden, wieder in den Unterricht zurückzukommen. Der Philosophie der Institution folgend, setzt er dabei keine Druckmittel ein, sondern appelliert an das Eigeninteresse des Schülers, der Gefahr läuft, den Anschluss an seine Mitschüler:innen zu verpassen. Doch es nützt nichts. Nachdem der Junge eine Weile stumm dasteht, dreht er sich um und geht.

"High School II" (1994) (© Arsenal – Institut für Film und Videokunst e.V)
"High School II" (1994; © Arsenal – Institut für Film und Videokunst e.V)


Der Film hingegen bleibt in der Schule. Damit markiert die Szene auch eine Grenze, oder vielleicht eher eine Grundbedingung der Wiseman’schen Technik des Dokumentarischen. Indem der Film sich auf die Institution konzentriert, schlägt er sie sich zugleich auf die Seite der Institution. Natürlich nur in einer gewissen Hinsicht - der filmische Blick bleibt stets ein humaner; Wisemans Interesse gilt nicht der abstrakten Funktion der Institution, sondern dem sozialen Raum, den sie eröffnet, letztlich ihrem Dienst an der Gemeinschaft und an jedem Einzelnen. Gleichzeitig jedoch partizipieren seine Filme an den Ein- und Ausschließungsmechanismen, ohne die Institutionen nicht existieren können.

Insgesamt ist das vermutlich wohl eher eine Stärke als eine Schwäche von Wisemans Kino, ein Aspekt seiner Objektivität. Dennoch bleibt der Umstand bestehen, dass der Junge, der sich vor dem Klassenzimmer umdreht und die Schule verlässt, auch den Film verlässt. Genauso wie sich der Erfolg der alternativen Unterrichtsmethoden der Central Park East Secondary School letztlich daran bemisst, wie viele ihrer Absolvent:innen nach dem Abschluss an guten Colleges oder auf dem Arbeitsmarkt reüssieren. (Zumindest zum Zeitpunkt der Dreharbeiten waren die Kennzahlen wohl ausgezeichnet.)


Fragen, die noch heute aktuell sind

Das passt zu einer weiteren Verschiebung zwischen den beiden Filmen. Insgesamt liegt der Fokus in „High School“ stärker auf den Schüler:innen, während in „High School II“ mehr die Lehrer:innen in den Fokus treten. Im ersten Film geht es zudem eher ums Geformtwerden, im zweiten um die Formenden. Dazu passt, dass in „High School“ dem Sportunterricht und einem heute anachronistisch anmutenden Haltungstraining für junge Frauen viel Raum eingeräumt wird. Damit gerät der Anspruch der Schule in den Blick, junge Menschen in allen Aspekten, insbesondere auch in ihrer Körperlichkeit, zurichten zu wollen; andererseits setzt Wiseman eben diese Körperlichkeit jedoch auch als etwas Widerspenstiges ins Bild, unter anderem in Aufnahmen eines Volleyballspiels, denen man heute unter Umständen ein gewisses (wenngleich nicht aggressives) voyeuristisches Interesse unterstellen würde.

"High School" (1968) (© Arsenal – Institut für Film und Videokunst e.V)
"High School" (1968; © Arsenal – Institut für Film und Videokunst e.V)


Solche eher impressionistischen Elementen finden sich in „High School II“ kaum noch. Im späteren Film gibt es überhaupt nur eine längere Szene, die Schüler:Innen unter sich, bei einem Gespräch ohne institutionelle Überformung zeigt. Doch gerade diese Szene, in der unter anderem eine ungewollte Schwangerschaft thematisiert wird, wirkt für Wiseman-Filme komplett untypisch, zwar nicht direkt gestellt, aber doch ein bisschen forciert.

Schließlich gilt es, die Zeitschiene genauer in den Blick zu nehmen, auf der nicht nur die beiden Filme, sondern auch unsere Wahrnehmung von ihnen verortet sind. Wenn bei der Wiederbegegnung „High School II“, im Positiven wie im Negativen, stärkere Reaktionen hervorruft als der erste Film, so liegt das vermutlich nicht zuletzt daran, dass er eine Welt zeigt, die wir zu kennen meinen. So sehr „High School II“, was die Darstellung von Mode und Technik betrifft, ein Kind seiner Zeit ist, verhandelt er doch Fragen, die in der Gegenwart dauerpräsent sind. Auch die rhetorischen Mittel, die dabei ins Spiel gebracht werden, sowie das Gefühl der permanenten Überforderung angesichts einer von allen Seiten konfrontativ geführten Debatte, werden vielen bekannt vorkommen. In „High School“ aus dem Jahr 1968 waren die entscheidenden Konfliktlinien noch grundsätzlich anderer Natur und haben viel mit einer seitdem ziemlich gründlich revidierten Vorstellung tradierter gesellschaftlicher Hierarchien zu tun.

Gleichzeitig allerdings gilt es zu bedenken, dass „High School II“ im Jahr 2022 von unserer Gegenwart faktisch weiter entfernt ist als von seinem Vorgänger. Ganze 28 Jahre trennen uns heute von Wisemans Aufnahmen in der Central Park East Secondary School. Schon allein deshalb sollte man dem Gefühl der Vertrautheit mit diesen Bildern misstrauen - und sich klarmachen, dass Wisemans Projekt ein fundamental unabgeschlossenes und zukunftsoffenes ist. Er selbst wird vermutlich keinen „High School III“ mehr drehen können. Dabei benötigte man einen solchen Film unbedingt - beziehungsweise viele solcher Filme, in den USA, in Europa und überall auf der Welt, wenn wir unser Zusammenleben gemäß demokratischer Maßstäbe einrichten wollen.


Veranstaltungshinweis

Das Kino Arsenal in Berlin zeigt vom 4. Mai bis zum 21. Mai eine Frederick-Wiseman-Retrospektive, die 21 Filme des Dokumentaristen umfasst. Darunter sind neben Klassikern wie "Welfare - Sozialfürsorge in New York" (1975) auch "High School" (5.5., 21.00 Uhr) und "High School II" (18.5., 19.00 Uhr). Zur Eröffnung am 4. Mai gibt es ein virtuelles Gespräch mit Frederick Wiseman, an dem auch Jean Perret, der langjähriger Leiter des Schweizer Festivals Visions du Réel, teilnimmt. Weitere Infos zur Retrospektive finden sich auf der Website des Kino Arsenal.

Kommentar verfassen

Kommentieren