In dem US-amerikanischen Drama „Waves“ von Trey Eward Shults gerät eine afro-amerikanische Mittelstandsfamilie in eine extreme Zerreißprobe, als ihr Sohn durchdreht und ein Verbrechen begeht. Der Film findet dabei nicht nur für das gesellschaftliche Umfeld der Figuren treffende Bilder, sondern greift auf christlich geprägte Motive wie Vergebung und Versöhnung zurück, um die Sackgassen aus Schuld und Verhängnis hinter sich zu lassen.
Es kommt immer seltener vor, dass in einem international beachteten Arthouse-Film, auch wenn er in der „Black Community“ spielt, eine ganze Familie mehrfach den Gottesdienst einer Baptistengemeinde besucht. Oder dass ein Großvater Prediger ist und seine Weisheiten zustimmend zitiert werden; und dass nach einem Totschlag, der eigentlich den Abbruch aller Beziehungen bedeuten müsste, ein Neuanfang versucht wird, dessen Quellen eindeutig im christlichen Ethos zu suchen sind. Noch seltener aber entwickelt sich das Drama einer US-amerikanischen Mittelschichtsfamilie mit einem starken Aufstiegswillen und entsprechend hohem Leistungsdruck mit der Wucht eines biblischen Epos’ über Schuld und Versöhnung.
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Die Gründe, „Waves“ (USA 2019), den jüngsten Film von Trey Edward Shults nicht zu verpassen, der seit Mitte Juli endlich auch in den deutschen Kinos läuft, sind aber ganz andere. Selten wurde in jüngerer Zeit so genial mit der „Bokeh“-Technik das unscharfe Lichtspiel einer Leuchtreklame, entgegenkommender Autos oder perlender Regentropfen derart ausgereizt wie hier. Der Film spricht auf diese Weise gerade dort, wo Worte versagen, mit einer faszinierend neuen Bildsprache. Selten auch war Filmmusik so aktuell, so szenebezogen, hochklassig und inspirierend, selten die Darstellenden derart mit ihren Rollen verschmolzen und in der Lage, die Klaviatur zwischen Unsichtbarkeit und Präsenz, Zorn und Zärtlichkeit derart hinreißend zu bedienen wie in diesem Film.
Dabei geht es in „Waves“ eigentlich um typische Probleme aufstiegswilliger afro-amerikanischer Menschen aus der US-amerikanischen Mittelschicht. Auch in sozialpolitisch-analytischer Hinsicht gelingt es dem Film, etwas zu zeigen, was weltweit in pluralen Gesellschaften an der Tagesordnung ist, aber selten wahrgenommen wird: dass nämlich auch Menschen, die in freistehenden Einfamilienhäusern leben und ihre Kinder auf höhere Schulen schicken, neben der Belastung durch eine lebenslang 200-prozentige Leistungserwartung vor rassistischer Diskriminierung nicht gefeit sind. Wo Rassismus herrscht, können Menschen aus diskriminierten Gruppen nicht ankommen, auch wenn sie augenscheinlich alle geforderten Kriterien erfüllen. Damit ergänzt „Waves“ das zeitgleich in den deutschen Kinos gestartete Historiendrama „Harriet – Der Weg in die Freiheit“ (USA 2019), das mit ähnlich humanistischer Wucht die aufopfernde Arbeit der abolitionistischen Protagonistin Harriet Tubman schildert.
Kehrtwende aus der Sackgasse heraus
„Waves“ teilt mit Barry Jenkins „Oscar“-verwöhntem Film „Moonlight“ (USA 2016) neben einer ambitionierten Ästhetik auch seine eindeutig christliche Motivik und spielt außerdem ebenfalls in Florida. Doch dieses Florida ist so anders, dass man neben vielem anderen auch versteht, warum in den USA inzwischen auch die schwarze „Community“ sozial und politisch tief gespalten ist.
Tyler (Kelvin Harrison Jr.), der Sohn der vierköpfigen Familie,
steht kurz vor dem Abschluss an der High School; er ist unter Freunden so
beliebt wie in der Schule und in seinem Sportteam, wo er als Ringer viele
Erfolge feiert. Doch eine verschleppte Verletzung an der Schulter löst eine
Kettenreaktion aus, die das Selbstverständnis seiner erfolgreichen Familie
dramatisch erschüttert. Tyler landet lebenslang im Gefängnis und hinterlässt
eine Familie, deren Mitglieder auf je eigene Weise unwiederbringlich aus der zuvor
schon wackeligen Balance gestoßen werden.
So emotional schnell und pathetisch, wie
Shults den ersten Teil des Dramas entwickelt, so zärtlich und still inszeniert
er den zweiten Teil. Statt Tyler rückt nun dessen jüngere Schwester Emily (Taylor Russell) ins Zentrum der
Erzählung, die mit einem Freund ihres Bruders aus dem Ringerverein anbandelt.
Luke (Lucas Hedges) ist weiß,
doch das hält beide nicht ab, sich gegenüber dem Anderen zu öffnen und
schließlich zu einem Trip nach Columbia, Missouri, aufzubrechen, um Lukes im
Sterben liegenden Vater aufzusuchen, an den Luke nur schlechte Erinnerungen
hat. Es war Emilys Idee, sich dem alkoholkranken Vater, dem Outlaw in der
Familie ihres Freundes, in seinen letzten Stunden zuzuwenden. Sie katalysiert
so, ohne das zu beabsichtigen, auch die heilende Wende in ihrer eigenen
Familie. Denn angesichts der bewegenden Wiederbegegnung von Vater und Sohn am
Sterbebett erkennt sie die Vergebung der Untat ihres Bruders als Heilmittel für
ihre eigene Familie, für die drohende Trennung ihrer Eltern und auch für die
schweren Schuldvorwürfe, die sie sich macht, weil sie das Verbrechen ihres
Bruders nicht verhindern konnte.
Eine fragile Vision von Vergebung
Statt in einer nur Sackgassen bietenden Vergangenheit stehen wir urplötzlich vor den Perspektiven einer Zukunft von fast schon paradiesischer Qualität. Schwarz und Weiß, Mann und Frau, Eltern und Kinder überschreiten mit Hilfe einer sensibel ins Bild gesetzten Dialogbereitschaft Grenzen, die im Film zunehmend unüberwindlich schienen. Die Quellen für ein solch erlösendes Verhalten, zu dem alle beitragen und von dem alle „profitieren“, liegen ausdrücklich in der vergebenden Kraft der christlichen Religion und ihrem positiven Bild von Familie und Humanität. Am Ende sind nur noch Menschen zu sehen, die sich ihrer Schwächen bewusst geworden sind und ein Leben miteinander statt gegeneinander führen.
Die Fragilität dieser Vision ersteht dank der
Inszenierung von Trey Edward Shults
und seinem genialen Kameramann Drew Daniels aus einem fast schon ausgelöschten Farbspektrum und mündet in
ein Farbenmeer, in welches das junge Liebespaar am Ende geradezu unauffällig
eintaucht.