Der Dokumentarist Philipp Hartmann leidet unter Chronophobie, der Angst vor dem Verstreichen der Zeit. In seinem Film will er dem Phänomen durch eine enzyklopädische Bestimmung dessen, was Zeit ist, auf die Spur kommen. Er sucht in unterschiedlichen filmischen Formaten nach Begriffsbestimmungen und Erklärungen, vergleicht die Bedeutung der Zeit in verschiedenen Kulturen und erzählt aus seinem eigenen Leben. Sein wunderbar mäandernder Film umkreist elegant und mit neugieriger Melancholie das Thema, ohne sich dem Trugschluss hinzugeben, die Zeit fixieren oder unterbrechen zu können.
- Ab 14.
Die Zeit vergeht wie ein brüllender Löwe
Dokumentarfilm | Deutschland 2013 | 80 Minuten
Regie: Philipp Hartmann
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Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 2013
- Produktionsfirma
- Flumenfilm
- Regie
- Philipp Hartmann
- Buch
- Jan Eichberg · Philipp Hartmann
- Kamera
- Helena Wittmann
- Schnitt
- Philipp Hartmann · Jan Eichberg · Luise Donschen
- Länge
- 80 Minuten
- Kinostart
- 09.10.2014
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 14.
- Genre
- Dokumentarfilm
- Externe Links
- IMDb | TMDB | JustWatch
Diskussion
Unsterblichkeit, Dornröschenschlaf, Zeitmaschinen – die Menschen haben sich im Laufe ihrer Geschichte einiges einfallen lassen, um das Regime der Zeit zu überwinden. Auch die Literatur hat sich daran abgearbeitet: Proust forschte der verlorenen Zeit hinterher, Mann und Musil widmeten untergehenden Epochen dickleibige Nachrufe. Doch kein Medium versteht es so plastisch wie der Film, von den durch die Zeit verursachten Veränderungen und Versehrungen zu erzählen – davon zeugen Langzeitdokumentationen wie „Die Kinder von Golzow“ oder jüngst Richard Linklaters Spielfilm „Boyhood“ (fd 42 403).
Der Filmemacher Philipp Hartmann nähert sich den Konventionen der Zeit mit einem unkonventionellen Werk. „Die Zeit vergeht wie ein brüllender Löwe“, lautet der Titel in Anlehnung an ein Bonmot der Großmutter des Regisseurs. Doch wie vergeht so ein Löwe eigentlich? Brüllt er wirklich oder steht er nicht eher stumm daneben, während sich die Falten einnisten, die Haare ausfallen, die Träume sich zersetzen? Als Hartmann mit seinem Film begann, war er 38 Jahre alt und hatte die Hälfte des für einen 1972 geborenen deutschen Mann statistisch prognostizierten Lebens hinter sich. In jeder der 76 Filmminuten verbirgt sich demnach eines seiner Lebensjahre. Hartmann leidet an Chronophobie, der Angst vor dem Vergehen der Zeit, vor dem Unausweichlichen. Er hat deshalb eine Therapie begonnen, die er mit dem Film in gewisser Weise fortführt.
Ein höchst persönlicher Dokumentarfilm also, mit fiktionalen Einsprengseln. 16 Millimeter, Super 8, DV, schließlich eine Handykamera – in den unterschiedlichen Formaten spiegelt sich das Fortschreiten der Zeit. In Braunschweig trifft er in den Räumen der Atomuhr einen Physiker, der über die Verlangsamung der Erdumdrehung spricht, weswegen die unerbittlich vor sich hin tickende Atomuhr gelegentlich eine Schaltsekunde als Ausgleich braucht. Das Rad der Zeit aus der Maya-Kultur wird ins Bild gesetzt, auch bittere Kuriositäten erhalten ihren Platz – der ehemalige Tagesschausprecher Jo Brauner verliest eine Nachricht von einem Mann aus New York, der aus Machtlosigkeit vor dem Vergehen der Zeit zum Amokläufer wurde. Ob noch ein dokumentarischer Kern besteht, bleibt manchmal in der Schwebe. Immer wieder blickt man auf das schmutzige, endlose Weiß einer Salzwüste.
Die stärkste Kraft entfaltet der Film, wenn Hartmann unmittelbar biografisch wird: wenn er von der eremitischen Figur der Wirtshäuser erzählt, die ihn als Kind magisch angezogen hat. Wenn er seine Mutter besucht, die ihm rauchend aus ihren Aufzeichnungen vorliest und sich nach ihren verstorbenen Mann sehnt. Wenn er den Nippes auf seinem Tisch einfängt, der an verflossene Liebschaften erinnert. Recht blass wirken dagegen die eingestreuten Miniaturen. Zwei Freunde sinnieren im Wald bei Joint und Dosenbier über das Leben, eine Frau hat nach einem Unfall ihr Gedächtnis verloren. Ein mäandernder Film, der sein Thema elegant umkreist und sich dabei stets bewusst ist, dass es sich nicht fixieren lässt.
Auch gesellschaftliche Fragen werden angerissen, das Zeitverständnis eines an Alzheimer Erkrankten etwa oder das Phänomen des Granny-Dumping: das Aussetzen alter Leute in Urwaldgesellschaften etwa. Doch was den Film so angenehm macht, ist diese Stimmung neugieriger Melancholie. Der unmögliche Wunsch, der aus ihm spricht: Die Zeit unterbrechen, das Kontinuum der Geschichte sprengen.
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