Gemächlich spazieren Franz Xaver Gernstl und ein älterer Mann einen kleinen Weg entlang. Die beiden plaudern ein bisschen, setzen sich auf eine Bank. Der freundliche Herr erzählt, dass er früher einmal studiert habe. Es war dann aber doch nichts daraus geworden. Wahnvorstellungen hatten ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht. „Dr. phil“ hatte er werden wollen. Gernstl hört sich das in niederbayrischer Gemütsruhe an. Selbst sagt er kaum etwas. Vielleicht einmal „soso“ oder „aha“. Gelangweilt klingt das nicht, auch nicht süffisant. Gernstl konstatiert einfach, dass er das, was ihm erzählt wird, ernst nimmt. So einen „Dr. phil“, tagträumt der sympathische Herr, könnte man beim Fernsehen bestimmt brauchen. Gernstl grinst nicht, er muss auch kein Grinsen unterdrücken. „Ja, den könnt man schon brauchen.“ „Den könnt man brauchen, nicht?“ „Mhm.“
Das Leben hält die wunderbarsten, wundersamsten Dialoge parat. Man muss sie nur niederschreiben. Seit über 20 Jahren hat sich Gernstl das zur Lebensaufgabe gemacht. Gemeinsam mit Kameramann Hans Peter Fischer und Tonmann Stefan Ravasz reist er für das Bayrische Fernsehen kreuz und quer durch den deutschsprachigen Raum. Jenseits der Städte, in der Provinz, dokumentiert er zufällige Begegnungen mit einfachen, unverstellten Menschen, den heimlichen Regisseuren der Fernsehreportagen, für die Gernstl 1992 und 2000 den Adolf Grimme Preis erhielt. Seit 1983 ist der Filmemacher, der in seinem zweiten Berufsleben mit der Produktionsfirma „megaherz“ Filme von Doris Dörrie („Erleuchtung garantiert“, fd 34 074), Andreas Dresen („Herr Wichmann von der CDU“, fd 35 890) oder Fatih Akin („Wir haben vergessen zurückzukehren“) realisierte, in Bayern, Ostdeutschland, Österreich, der Schweiz und Südtirol unterwegs. Meist trifft er dort die Leute, von denen man im Dorf spricht, weil sie angeblich einen Spleen haben oder als „Originale“ gelten: Wünschelrutengänger, Künstler, Hippies, einfache Bauern, Schreiner. Er lässt sich von ihnen auf einen Schnaps einladen, trinkt Weißwein aus einem goldenen Kelch, bleibt zum Abendessen. Wenn die Menschen von ihrem Leben erzählen, ihren Leidenschaften, hört er ihnen zu. Hin und wieder fragt er: „Und, sind Sie zufrieden mit Ihrem Leben?“ Das fragt er ohne Hintergedanken, ohne eine bestimmte Antwort herauslocken zu wollen. Er diktiert seinen Gesprächspartnern nicht, wie sie sich zu fühlen haben; es interessiert ihn tatsächlich, was sie empfinden. Gernstl hakt und bohrt auch nicht nach. Ohne journalistische Attitüde respektiert er die Grenzen, die sein Gegenüber setzt. Er führt keine Gespräche, schon gar keine Interviews. Man unterhält sich eben freundschaftlich unter Gleichen, die Kamera läuft mit. Simpel, ja banal klingt das Prinzip, auf dem Gernstls Reportagen basieren. Dass sie dennoch fast revolutionär anmuten, wirft kein gutes Licht auf die aktuelle Fernsehlandschaft.
1968 stürzte sich Gernstl noch in die Rosenheimer Sponti-Szene und verteilte Fünfmarkscheine an Passanten, um zu zeigen, dass Geld nicht alles ist. Heute macht er Anti-Fernsehen, gerade weil er nicht provoziert. Gängige Praxis „zeitgemäßer“ Fernsehunterhaltung ist, die Leute auf der Straße bloßzustellen oder sich auf zynische Weise über sie lustig zu machen. Wer das nicht tut, fällt aus dem Rahmen. Gernstl zielt nicht auf den spektakulären, schnell verpufften Effekt. Er beobachtet mit einer Engelsgeduld, stoisch gelassen, mit langem Atem. Seit 1983, als er zunächst gemeinsam mit Kameramann Fischer auf der Suche nach „den besten Weibern, dem besten Bier und den besten Bratwürsten“ loszog und Menschen fand, die „wissen wie man richtig lebt“, hat er reichlich Material versendet. Ungleich mehr dürfte dem Schnitt zum Opfer gefallen sein. Das eigentliche Fernsehstück entsteht am Schneidepult, bei der Auswahl charakteristischer, magisch-wahrhaftiger Momente. Und weil diese über sich hinaus nachklingen, macht es Sinn, sie für einen Kinofilm zu sammeln. In „Gernstls Reisen – Auf der Suche nach dem Glück“ blickt der Regisseur mit trockenem Humor auf seine Reisen fürs Bayrische Fernsehen zurück und zeichnet eine faszinierende, eigenwillige Kinolandkarte, die durch ein Stück gelebter deutscher Alltagsgeschichte führt. Er trifft einen Freizeitboxlehrer, dem die Tränen in die Augen steigen, als er nach der Beziehung zu seiner Frau gefragt wird. Die Kamera fängt den Augenblick ein, ohne draufzuhalten. Diskret schwenkt sie zur Seite, kehrt erst zurück, als der Trainer sich gefangen hat. Eine andere Reise führt zu einem Theologen, der sich der Schafskäseherstellung verschrieben hat und den Bakterien für den Reifeprozess gut zuredet. Lustig? Vielleicht. Aber bei Gernstl kein Lacher, allenfalls etwas zum (Mit)schmunzeln. „Das ist schon ein Wunder“, sagt der Käser, „wie aus Gras Milch wird – und Wolle.“ „Stimmt“, sagt Gernstl. Ein Unfallchirurg hat einen Gnadenhof für Tiere eingerichtet. Warum? „Man darf ja überhaupt nicht fragen, ob was einen Sinn hat“, findet er. „Das menschliche Sein überhaupt. Ich frag nicht danach.“ Das tut auch der alte Schreiner nicht, der strahlt, als er sagt, dass er rundum zufrieden sei, und Gernstl einen Obstler anbietet. Glück, resümiert der Regisseur, sei eigentlich eine ganz einfache Sache. Glücklich seien immer die, die nicht suchen, sondern leben.
Filmemachen ist eigentlich auch eine ganz einfache Sache. Wie das geht, verrät Gernstl gleich zu Beginn: „1983 haben wir uns einen grünen Bus gekauft, später einen roten, dann einen blauen und dann wieder einen roten. Davon handelt dieser Film.“ Ganz einfach. So einfach, dass man schon vom Zusehen glücklich wird.