Drama | Frankreich 1994/95 | 129 Minuten

Regie: Tran Anh Hung

Ein junger Rikscha-Fahrer, dem sein Gefährt gestohlen worden ist, muß dieses abbezahlen, indem er Verbrechen begeht. Anfangs unwillig, fasziniert ihn schließlich die Welt der Gangster, die eine Flucht aus der Armut in Ho-Chi-Minh-Stadt verspricht. Eine schonungslose Bestandsaufnahme der elenden Lebensbedingungen und der Anarchie im heutigen Vietnam, inszeniert unter Berufung auf östliche Darstellungstraditionen. Dokumentarische Szenen unterstreichen den bewußten Ausschnittcharakter des Gezeigten.
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Filmdaten

Originaltitel
CYCLO
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
1994/95
Produktionsfirma
Lazennec/La Sept/Lumière
Regie
Tran Anh Hung
Buch
Tran Anh Hung
Kamera
Benoît Delhomme
Musik
Tôn Thât Tiêt
Schnitt
Nicole Dedieu · Claude Ronzeau
Darsteller
Le Van Loc (Rikscha-Junge) · Tony Leung Chiu-wai (Poet) · Tran Nu Yên Khê (Schwester) · Nguyen Nhu Quynh (Madam) · Hoang Phuc Nguyen (Zahn)
Länge
129 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 16; f
Genre
Drama
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Diskussion
Stellt man Tran Anh Hungs bisherige zwei Spielfilme einander gegenüber, scheinen sie sich auf symbiotische Weise zu ergänzen. "Der Duft der grünen Papaya" (fd 30 512) erzählte von dem Vietnam, das parallel und zugleich jenseits des französischen Indochinakrieges Anfang der 50er Jahre existierte. Es herrschte eine soziale und eine Harmonie mit der umgebenden Natur. Aber die soziale Harmonie basierte auf dem System von Herrschaft und Knechtschaft, wobei die Herrschaften nicht wirklich glücklich und deren Söhne nicht wirklich normal waren; diese wiederum tasteten die Harmonie der Natur an. Der Künstlichkeit der Kulisse entsprach ein kulissenhaftes Dasein zwischen heimischer Konvention und westlichem Divertissement - ein Dasein, das immerhin irgendwie funktionierte, trotz der darüber hinwegbrausenden Flugzeuge und der Ausgangssperre. "Cyclo" nun zeigt eine Welt, die vollkommen aus den Fugen geraten ist, obwohl die Kriege vorbei sind. Ein erstes Signal ist die akustische Kulisse. Bestand sie im Erstling aus unausgesetztem Vögelgezwitscher, ist hier pausenlos der manchmal ohrenbetäubende Straßenlärm von Ho-Chi-Minh-City zu hören, dem ehemaligen Saigon: keine Tür, keine Wand, die ihn aufhalten konnte. Diesem Lärm entspricht ein Gewimmel von alten Autos und Fahrrädern, auf das die Protagonisten immer wieder einen Blick werfen, als wollten sie sich Vergewissern, daß alles weiterfließt wie bisher - obwohl hinter den dünnen Wänden, in Hör- und oft auch in Sichtweise dieses offiziellen Vietnams Unerhörtes, ja Entsetzliches geschieht. Und es geschieht so unvermittelt und unvorbereitet, daß man oft erst im nachhinein verstehen kann, was es mit diesem Anschlag oder jenem Verbrechen auf sich hat. Das Chaos ist die einzige Gewißheit, ein Chaos, wogegen das des ungeregelten Verkehrs wie Harmonie wirkt.

Im Mittelpunkt steht ein Cyclo, ein Rikschafahrer, aber auch das ist nicht mehr ganz sicher, als eine Figur auftaucht, die "der Poet" genannt wird. Der Cyclo ist 18 Jahre alt, hat keine Eltern mehr und sich gerade vorgenommen, einen Kredit aufzunehmen - eine neue Idee der kommunistischen Regierung -, als ihm seine Rikscha gestohlen wird. Wie sich herausstellt, steckt seine so würdevoll wirkende Arbeitgeberin dahinter, die den Jungen nun erpreßt. Um das Geld für das Gefährt abzubezahlen, wird er für sie zum Handlanger für ihre verbrecherische Gang. Anfangs geht er mit Widerwillen ans Werk, dann findet er Gefallen an der neugewonnenen Macht über Besitz und Leben anderer - und am schnell verdienten Geld.

Dann ist da seine schöne Schwester, kaum älter als er, die zunächst artig den Haushalt der GroßEltern führt, wo beide Geschwister wohnen. Eines Tages aber entschließt sie sich, mehr Geld zu verdienen und prostituiert sich. Dem Zuschauer wird nach und nach klargemacht, daß sie dies aus Liebe zum "Poeten" tut, und diesem wird plötzlich klar, daß sie zunehmend Gefallen an ihrer neuen Arbeit findet. Bruder und Schwester sind nun Teil des Systems. Dieses System besteht freilich nur aus der organisierten Weitergabe von Geld, von Hand zu Hand, die Tran Anh Hung penibel vorführt als eine feste Größe im moral- und ordnungsfreien Raum. Er zeigt auch die Alternative: weiter dahinzuvegetieren in der Armut und Tristesse, die die Stadt zu bieten hat. Hier setzt Tran dokumentarische Szenen ein. Er schwenkt die Wohnblocks entlang, von Fenster zu Fenster, und zeigt Menschen in winzigen Waben; oder er stellt sie mit geschlossenen Augen vor den Hintergrund einer schlammigen Landschaft, die sich als die Elendsviertel der Stadt erkennen lassen. Ein deutliches Bild: Der Film nimmt für sich nur in Anspruch, einen kleinen Ausschnitt zu zeigen; dem entspricht die Tatsache, daß keine Figur im Film einen Namen hat.

Einen großen Anteil an der Wirkung der Bilder hat die großartige Musik von Ton That Tiet, der schon für Trans Erstling Entsprechendes geleistet hat: eine disharmonische Elegie von durchdringender Kraft, die westliche Ohren kaum je gehört haben. Bei seiner Inszenierung beruft sich Tran vor allem auf östliche Traditionen. Einmal die des auch in Vietnam einflußreichen chinesischen Theaters: dessen Farb- und Maskensymbolik etwa, in die zuerst der geistesschwache Sohn der Gangster-Chefin, dann der Cyclo getaucht wird. Beide Male stehen für ein Übertreten in ein anderes Element, ein Prozeß, der mal mit den Tod, mal mit Selbsterkenntnis verbunden ist. Der Cyclo versinkt zuerst in Fäkalschlamm, dann taucht er sich in Wasser - das eines Aquariums - und schließlich, da dies ihn nicht mehr reinigen kann. in blaue Farbe: diese steht in der Peking-Oper zugleich für Verschlagenheit und Überheblichkeit. Dem Darsteller des Cyclo, Le Van Loc, wird dabei einiges zugemutet, und damit auch dem Zuschauer; das Ensemble ist insgesamt sehr stark. Auch Trans Choreographie des Todes hat ihren Ursprung in dieser Tradition, die zwischen Drama, Tanz und Gesang nicht trennt; der Hongkongfilm setzt sie mittels der Martial Arts auf seine Weise fort, die Tran Anh Hung wiederum mit entsprechender Distanz adaptiert. Die Raumbezogenheit und Statik seiner Bilder schließlich bekennt sich zu den Vorbildern Ozu und Mizoguchi. Leichter macht es Tran dem Zuschauer durch diese Verwurzelungen nicht, aber er öffnet die verklebten Augen ein wenig mehr.
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