Schlafes Bruder
Drama | Deutschland 1995 | 127 Minuten
Regie: Joseph Vilsmaier
Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 1995
- Produktionsfirma
- Perathon/B.A./Kuchenreuther/Iduna/DOR/Österr. Filminstitut/ORF
- Regie
- Joseph Vilsmaier
- Buch
- Robert Schneider
- Kamera
- Joseph Vilsmaier
- Musik
- Norbert Jürgen Schneider · Hubert von Goisern
- Schnitt
- Alex Berner
- Darsteller
- André Eisermann (Elias) · Dana Vávrová (Elsbeth) · Ben Becker (Peter) · Detlef Bothe (Lukas) · Paulus Manker (Oskar)
- Länge
- 127 Minuten
- Kinostart
- 03.10.2024
- Fsk
- ab 12; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 16.
- Genre
- Drama | Literaturverfilmung
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Heimkino
Romanverfilmung um einen musikalisch genialen Außenseiter aus einem Alpendorf.
Als der Roman „Schlafes Bruder“ 1992 als Debüt des damals 31-jährigen Schriftstellers Robert Schneider erschien, lag schon ein langer, dorniger Weg hinter dem Manuskript. 23 Verlage sollen das Buch abgelehnt haben, bevor es nach seinem Erscheinen in kürzester Zeit zu einem Stück Weltliteratur avancierte. Sowohl die Skepsis der Verleger als auch der enorme Erfolg sind verständlich; der Roman ist ein vertracktes Stück Literatur, der die Sprache des frühen 19. Jahrhunderts nachbildet und in der Fabel eher den Innensichten seines Protagonisten verpflichtet ist als einer äußeren Handlung.
Durch den Kunstgriff des auktorialen Erzählens wechselt Schneider virtuos zwischen Nähe und Distanz zu den Begebenheiten: einerseits als Chronist, der mit seziererischer Härte die düstere Dumpfheit einer bäuerlichen Dorfgemeinschaft beschreibt, andererseits als mitfühlender Kommentator, der über Hass, Eifersucht, Missgunst und auch die Angst der Menschen trauert, die sich gegen jede Form des Andersseins wehren.
Die Defizite des Zivilisationsprozesses
Was als Wunder der „Mensch- und der Geniewerdung“ beginnt, scheitert tragisch in beiderlei Hinsicht. In dem Maße, wie das Genie unterdrückt wird, verraten die Menschen um es herum ihre Menschlichkeit. Am Ende erweist sich „Schlafes Bruder“ als zeitlos-aktuelle Reflexion über Defizite des menschlichen Zivilisationsprozesses.
Worum es auf der Handlungsebene geht, verrät der Roman bereits im ersten Satz: „Das ist die Geschichte des Musikers Johannes Elias Alder, der zweiundzwanzigjährig sein Leben zu Tode brachte, nachdem er beschlossen hatte, nicht mehr zu schlafen.“ Die Geschichte eines krassen Außenseiters, der 1803 als Bauernsohn in der Abgeschiedenheit eines Alpendorfes zur Welt kommt und schon als Säugling die Eltern durch seine Sonderbarkeit so erschreckt, dass sie den heranwachsenden Jungen von der Gemeinschaft absondern.
Es sind die von der Hebamme gesungenen Töne des Tedeums, die das Kind ins Leben rufen, es sind die von ihm selbst ausgestoßenen seltsamen Töne, die die Menschen misstrauisch machen. Elias’ genialisches Naturtalent besteht in seiner intuitiven Auffassungs- und Verarbeitungsgabe von Tönen, Geräuschen und Melodien: Voraussetzungen für seine außergewöhnliche kompositorische Begabung, ohne dass er eine Note schreiben kann.
Bereits als Kind erfährt Elias in einer wundersamen akustischen Vision die Göttlichkeit der Klangwelt, die ihn beinahe zerreißt und ihm als äußeres Zeichen die Pupillen gelb färbt. Und er antizipiert den Herzschlag des fünf Jahre jüngeren Mädchens Elsbeth, das er liebt, in der Überzeugung, dass Gott jedem einen Menschen zugedacht hat, der „dasselbe Herzschlagen trägt“.
Für einen so außergewöhnlichen jungen Mann gibt es in einer engen, engstirnigen Welt letztlich keinen Halt und keine Entwicklungsmöglichkeit. Sie zerstört sich eher selbst, als dass sie Toleranz übt. Elias bleibt nur die Illusion seiner Liebe zu Elsbeth, der er sich ganz hingibt. In einer seltsamen Verbindung von Selbstaufgabe und Selbstverwirklichung verweigert er bis zum Tod den Schlaf, denn: „Wer schläft, der liebt nicht“.
So birgt Schneiders apokalyptisch-düstere Vision auch die Utopie in sich, dass die Kraft des Geistes und der Liebe über Bigotterie, zerstörende Triebe und Instinkte zu triumphieren vermag - wenn nicht in der Zeit des Elias’, dann vielleicht in einer (baldigen?) Zukunft.
Bis zur Kontraproduktivität
Für die Verfilmung dieses erzählerisch wie gedanklich ungewöhnlichen Kosmos hätte es einer entsprechend vielschichtigen optischen Erzählform bedurft: einer Struktur, die Klang- und Bilderwelten, Innen- und Außensichten, den historischen wie zeitlos-philosophischen Diskurs in ein komplexes Verhältnis gesetzt hätte. Joseph Vilsmaier verweigert sich einer solch „anspruchsvollen“ Vorgehensweise jedoch von Beginn an. Er betreibt stattdessen aufreizend demonstrativ das Gegenteil. Indem er die Windungen der Handlung sehr stark entflechtet und vereinfacht und sie im Kern auf eine doppelt scheiternde Liebesgeschichte zurückführt, trivialisiert er die Romanvorlage bis zur Kontraproduktivität. Statt sich für eine adäquate Visualisierung der Fabel zu interessieren, folgt er lediglich der „Vision“ einer kommerziell vermarktbaren europäischen Großproduktion.
Von den ersten Filmmetern an dokumentiert Vilsmaier eine filmische Kraftmeierei, die eher dem Sensationskino des Rummelplatzes entspricht, als dass sie Geist und Seele der literarischen Vorlage transformiert. Wo es darum ginge, die Abgeschlossenheit sowie die räumliche wie geistige Enge des Bergdorfes zu vermitteln, lässt er die Kamera in bombastischen Panoramabildern über die Berge fliegen und öffnet damit einen nie funktionalen filmischen Raum. Wo der Schmutz und die Primitivität des Dorfes auch Zeichen für Zerfall und Degeneration sind, schwebt die Steadycam-Kamera ohne jeden Stolperer über den Dorfpfaden, steigt in komplizierten Kranfahrten nach oben, lediglich sich selbst und ihre technischen Fähigkeiten feiernd, nicht aber sinnstiftend erzählend, eher delirierend.
Was bleibt, ist ein überlanges Bauernepos in aufwendiger Ausstattung, das nie berührt und nicht bewegt. Alle Hässlichkeit und Grausamkeit der Menschen, aber auch die Wucht und visionäre Schönheit der Musik als Form „göttlicher Eingebung“ werden pittoresk geglättet und auf ein für den schnellen Verbrauch bestimmtes (Mittel-)Maß gestutzt.
Klang- und visuelle Farben
Nur in wenigen Momenten wagt sich Vilsmaier an eine Umsetzung von Elias’ akustischen Eingebungen, wobei ihm durchaus vielversprechende Momente gelingen, in denen die Klangfarben der Musik mit den visuellen Farben der Naturbilder korrespondieren. Vielversprechend sind auch einige Nebenrollen: etwa Paulus Manker als neidvoller und doch klarsichtiger Lehrer und Organist Oskar, der seine eigenen Grenzen, aber auch die seiner Zeit erkennen muss, sich prügelnd und verletzend dagegen wehrt, bis er durch die von Elias virtuos restaurierte Kirchenorgel eine klangliche Reinheit erfährt, die ihn in Resignation und Selbstmord treibt. Eindrucksvoll ist auch Ben Becker als Peter, Elsbeths Bruder, der Elias liebt, und zwar weitaus tiefer und selbstloser als seine Schwester. Er ist der einzige „Rebell“, der sich - wenn auch ziel- und wirkungslos - gegen die Verhältnisse auflehnt, was im Roman freilich weit profilierter beschrieben wird, wo Peter auch aus ganz anderer Motivation das Dorf in Brand setzt.
Am Ende des Romans ist der Leser dem Erzähler ein guter Freund geworden, „er wäre unmöglich bis an diesen Punkt unseres Büchleins vorgedrungen“, heißt es. Der Betrachter des Films vermag kaum eine solch bemerkenswerte Beziehung aufzubauen; bis ans Ende des Films dringt er weit weniger fasziniert vor, enttäuscht vor allem von einem maßlosen und doch so wenig visionären Regisseur.