Letzte Bilder eines Schiffsbruchs

Drama | Argentinien/Spanien 1989 | 128 Minuten

Regie: Eliseo Subiela

Ein von Beruf und glückloser Ehe frustrierter Angestellter will Schriftsteller werden. In einer schönen jungen Frau glaubt er die ersehnte Inspirationsquelle für den geplanten Roman gefunden zu haben. Die Begegnung mit ihrer Familie wird für den Mann, der langsam die Rolle des Beobachters aufgibt, zu einer tiefen existentiellen und emotionalen Erfahrung. Der facettenreiche, kunstvoll konstruierte Film erzählt eine Liebesgeschichte vor dem Hintergrund sozialer Not und gesellschaftlicher Apathie. Zugleich meditiert er über die Beziehungen zwischen Kunst und Leben, Traum und Wirklichkeit, wobei seine selbstironischen Brechungen oft etwas bemüht und akademisch wirken. (Lobende Erwähnung der Ökumenischen Jury in Montreal 1989) - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
LAST IMAGES OF A SHIPWRECK | ULTIMAS IMAGENES DEL NAUFRAGIO
Produktionsland
Argentinien/Spanien
Produktionsjahr
1989
Produktionsfirma
Cinequanon
Regie
Eliseo Subiela
Buch
Eliseo Subiela
Kamera
Alberto Basail
Musik
Pedro Aznar
Schnitt
Marcela Sáenz
Darsteller
Lorenzo Quinteros (Roberto) · Noemi Frenkel (Estela) · Sara Benitez (Mutter) · Pablo Brichta (Kleingangster José) · Andreas Tiengo (Mario)
Länge
128 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama | Liebesfilm
Externe Links
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Diskussion
"Ich erzähle euch eine Geschichte aus meinem Leben, weil sie das eure widerspiegelt", verspricht der Mann, unter einem Baum in der Sonne sitzend, dem erwartungsvollen Publikum. So beginnt, was die Fachleute eine Rahmenerzählung unter Zuhilfenahme der filmischen Rückblendetechnik nennen. Der Satz ist zugleich Auftakt zu einem Fragespiel, in das sich der Zuschauer verwickelt sieht. Ist der Mann tatsächlich der Schöpfer dieser Geschichte? Und wenn ja, hat er alles "wirklich erlebt"? Ist er nicht vielmehr ein schamloser Lügner, der uns einen Bären aufbinden will? Oder ein Phantast, dessen krankes Him seltsame Gestalten gebiert? Oder ist er vielmehr selbst eine Kunstfigur, die einen Roman entsprungen ist? Und wenn ja, wer ist der Autor des Romans? Und welch Rolle spielen die Zuschauer und Zuhörer, die ihr eigenes Leben hier "wiedergespielgelt" finden sollen? Ist die Erzählung ein Raster, das man mit eigenen Erfahrungen zu füllen hat? Ist man gar eingeladen, seinerseits weiterzudichten an diesem autobiografischen Projekt und also aufgefordert, selbst zum Autor zu werden?

"Letzte Bilder eines Schiffbruchs" ist, unter anderem, ein Diskurs über Formen und Funktionen der Ich-Erzählung, über die verschlungenen Beziehungen zwischen Kunst und Leben, Fiktion, und Wirklichkeit. Daneben - und damit verflochten - handelt der Film von einem Mann, einer Frau und der Macht der Liebe: auch dies ist ein unsicheres Terrain, wo die Dinge oft nicht das sind, was sie zu sein scheinen. Der Mann heißt Roberto, arbeitet bei einer Versicherung und träumt davon, Schriftsteller zu werden. Die Frau heiß Estela, ist schön, stolz und stammt aus einer verarmten vaterlosen Familie. Als Roberto das Mädchen in der U-Bahn von Buenos Aires vor dem Selbstmord rettet, wird zunächst sein professionelles Interesse geweckt: Roberto glaubt in Estela die lange gesuchte Inspirationsquelle für seinen geplanten Roman gefunden zu haben. In der Tat ist Estela ein ungewöhnlicher Charakter. Ihre Selbstmordversuche beispielsweise sind nur simuliert: ein Trck, um Männer kennen zu lernen. Später wird der Zuschauer Zeuge, wie Christus in der Kirche vom Kruzifix steigt, um sich mit Estela seelsorgerisch zu unterhalten; auch dies beweist den besonderen Status dieser "ganz normalen" und doch verschlossenen-fremdartigen jungen Frau. Ihr gegüber schlüpft Roberto in die Rolle des Patrons Er "mietet" Estela sozusagen als Objekt für ethnologisch-literarische Studien, und da dies gegen gute Bezahlung geschieht, ist Deal zu beiderseitigem Vorteil.

Roberots Forschungen erstrecken sich auch auf Estelas Familie, die im Brachland am Rand der Stadt in Armut und verzweiflung dahinwegetiert. Estelas drei Brüder verkörpern jeweils verschiedene Möglichkeiten, das Elend zu kompensieren: José ist ein Kleinkrimineller, der seine Taten mit einem seltsamen religiösen Wahn verrichtet; der sanfte Claudio ist von Kürbissen fasziniert und streicht jeden Tag ein Wort aus seinem Wortschatz, was die Konversation zunehmend erschwert; Mario schließlich baut auf der Terrasse des Hauses ein Flugzeug, mit dem er ausbrechen will aus dem familiären Gefängnis, indem er "einen Tunnel in den Himmel gräbt". Dieser zeitlos im Nichts treibende familiäre Mikrokosmos wird für Roberto zur utopischen Hoffnung. Der frustrierte Intellektuelle, beruflich und privat am Ende, findet hier das "wahre" Leben, von dem er schmerzlich entfremdet war. Umgekehrt erscheint er der Familie als rettender Wohltäter und Erlöser: Endlich kümmert sich die Welt um dieses arme Häuflein von Vergessenen.

Beide, Roberto und Estelas Familie, starben bei lebendigem Leibe. Nun endlich scheint ein neues Leben möglich. Daher wird aus dem literaturwissenschaftlichen Experiment eine Sache der Leidenschaft. Roberto verläßt die Position des Beobachters und mischt sich ein; so versorgt er José mit Szenarien für originelle Raubüberfälle (womit er sich schließlich mitschuldig macht an Josés Tod). Und er verliebt sich in Estela, die seine Gefühle erwidert. Beide Seiten arbeiten hart an der Überwindung der Fremdheit. Am Ende freilich formuliert Roberto die nüchterne Erkenntnis: "Der Fehler war, darauf zu hoffen, daß die große Rettung eintrifft. Die große Rettung hat es nie gegeben." So muß man auf die kleine Rettung vertrauen. Für Roberto besteht sie darin, daß sich Estela zu ihm bekennt und bei ihm bleibt, während die Mutter und die Brüder die Stadt verlassen, auf der Suche nach dem verschollenen Vater, den Roberto nicht ersetzen konnte.

Man kann diesen facettenreichen Film natürlich als Metapher für die argentinische Gesellschaft lesen; dann bezöge sich der "Schiffbruch" auf den desolaten Zustand eines Landes, das apathisch seinen wirtschaftlichen und sozialen Ruin erlebt, während die Künstler und Intellekuellen, gleichermaßen hilflos, "das Leben beobachten, ohne es wirklich zu leben" (Subiela): In seiner vertrackten Struktur, in seinen teilweise durchaus maniriert wirkenden Brechungen ("Sind wir alle Figuren in einem Film? Wer mag ihn sich ansehen? Vielleicht niemand?"), in seinem selbst-reflexiven Spiel mit den Ebenen der Darstellung un in seiner koketten Selbstironie ist Subielas Film jedoch vor allem ein kühl konstruiertes Kunstgebilde, das seine erzähltechnische Raffinesse als Teil der Botschaft manchmal geradezu vorzeigt. Dies verbindet ihn mit der Tradition der großen lateinamerikanischen Erzähler Marquez, Llosa und Borges - und wie diese hat auch Subiela Lust am mäandernden Fabulieren, wobei Realismus und Surrealismus, das Wirkliche und das Phantastische regelmäßig ineinanderfließen. So ist auch die überraschend optimistische Version, mit der der Film endet, eigentlich viel zu schön, um "wahr" zu sein: Roberto und sein mit Estela gezeugtesKind inmitten einer paradiesischen Natur - "letzte bilder" von Glück und Frieden, die sich ein Schiffbrüchiger im Moment des Ertrinkens ertäumt?
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