Coming-of-Age-Film | USA 2024 | 140 Minuten

Regie: RaMell Ross

Im Florida der 1960er-Jahre sind zwei afroamerikanische Jugendliche in der sogenannten Nickel Academy inhaftiert. Die von Rassismus durchsetzte Gesellschaft zeigt auch hinter den Gittern der Besserungsanstalt ihre grausame Härte. Der Film setzt die Freundschaft der beiden, getrieben von Eskapismus und Rebellion, in feinfühligen, einprägsamen Momentaufnahmen um. Formal außergewöhnlich ist die Entscheidung, fast komplett aus subjektiven Perspektiven zu erzählen und das Publikum abwechselnd durch die Augen der beiden Hauptfiguren blicken zu lassen. In seinen schwächeren Momenten schafft der Film dadurch unnötige Distanz zu den Figuren, doch in seinen stärksten verschmelzen Stil und Inhalt zu einem einmaligen Seherlebnis. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
NICKEL BOYS
Produktionsland
USA
Produktionsjahr
2024
Produktionsfirma
Orion Pictures/Plan B Entertainment/Louverture Films/Anonymous Content
Regie
RaMell Ross
Buch
RaMell Ross · Joslyn Barnes
Kamera
Jomo Fray
Musik
Scott Alario · Alex Somers
Schnitt
Nicholas Monsour
Darsteller
Ethan Herisse (Elwood Curtis) · Brandon Wilson (Turner) · Hamish Linklater (Spencer) · Fred Hechinger (Harper) · Daveed Diggs (Elwood als Erwachsener)
Länge
140 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Coming-of-Age-Film | Drama | Literaturverfilmung
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IMDb | JustWatch

Visuell ambitioniertes Gefängnis-Drama über zwei schwarze Jugendliche, die sich in einer unmenschlichen Strafanstalt begegnen.

Aktualisiert am
14.03.2025 - 14:32:48
Diskussion

Die erste Lektion in der Nickel Academy besteht darin, dass ein Aufseher die Zahlen von eins bis vier auf eine alte Schiefertafel schreibt und den Inhaftierten dazu Folgendes erklärt: Das ist euer Weg zurück in die Freiheit. Momentan seid ihr Stufe-4-Ungeziefer, aber wenn ihr euch vorbildlich benehmt, könnt ihr Stufe für Stufe aufsteigen und wieder ein konstruktiver Teil der Gesellschaft werden. Der Mann, der diese Lektion erteilt, ist weiß. Seine Zuhörer sind schwarze Jugendliche. Niemand von ihnen glaubt ernsthaft, auf diesem Weg die Nickel verlassen zu können. Ihre Erfahrungen mit Repression und Rassismus im Amerika der 1960er-Jahre haben sie eines Besseren belehrt. Selbst hinter den Zäunen der Strafanstalt sind sie Inhaftierte zweiter Klasse. Es gibt andere Möglichkeiten, Nickel zu entkommen – wenn man schwarz ist, ist eine dieser Möglichkeiten, zu sterben. Das ist die Normalität, wenn man die Welt durch die Augen von Elwood (Ethan Herisse) und Turner (Brandon Wilson) sieht.

Augen und Blicke

Ein Reigen von Eindrücken flimmert über die (nicht komplett ausgefüllte) Leinwand. Wir sind ein kleines Kind, das unter einem Weihnachtsbaum sitzt und nach Lametta greift, wir sind ein Junge auf einer Wiese, der auf Orangenbäume blickt, wir sehen Spinnennetze im Sonnenlicht, Deckenventilatoren in engen Räumen, und immer wieder blicken wir Menschen ins Gesicht und beobachten, wie sie auf uns reagieren. Die einen mit Liebe, die anderen mit Neugier und viele mit Abneigung. Regisseur RaMell Ross bedient sich einer Bildsprache, die er in seinem preisgekrönten Dokumentarfilm „Hale County, Tag für Tag“ kultiviert hat. Der prüfende Blick der Kamera versinkt so lange in Alltäglichkeiten, bis diese plötzlich wie kleine Wunder erscheinen.

Doch im Gegensatz zu seinen dokumentarischen Arbeiten heftet Ross in seiner ersten Spielfilmarbeit diesen Blick an seine Figuren und setzt das Publikum damit ins Zentrum des Geschehens. Dieser Ansatz ist für ein Drama nicht nur ungewöhnlich, sondern in gewissem Maße auch unintuitiv. Die subjektive Kamera findet sich normalerweise eher als Gimmick in Genrefilmen wieder, in denen die Figuren nebensächlicher sind, weil das Spektakel im Mittelpunkt steht. Statt Nähe zu erzeugen, geht ein wichtiger Bezugspunkt verloren, denn es wirkt geradezu dissonant, einer Person auf der Leinwand in emotionalen Augenblicken nicht ins Gesicht schauen zu dürfen. Gerade in dramatischen Momenten verspürt man den Wunsch, zu sehen, wie Menschen reagieren, anstatt die Leerstelle selbst füllen zu müssen. Ross löst den Knoten dadurch, dass er ab einem bestimmten Punkt die Perspektive zwischen den zwei Hauptfiguren aufteilt. Obwohl dieser Wechsel dabei hilft, einzelne Szenen emotional besser nachzuvollziehen, bringt er eine neue Ebene der Orientierungslosigkeit mit sich, da man häufig einen kurzen Moment braucht, um zuordnen zu können, in wessen Haut man gerade steckt. Der eigene Verstand, der versucht, dem klassischen Narrativ zu folgen, arbeitet dabei zuweilen gegen die persönlichen Sehimpulse, denn eigentlich möchte man sich an dem, was Ross auf die Leinwand bringt, sattsehen. Jedes Bild scheint bewusst gewählt und filigran komponiert zu sein, voller Impressionen und bedeutungsschwangerer Details, die aufgesogen sein wollen, um all die Sorgfalt zu ergründen, die in die Erzählung eingeflossen ist.

Martin Luther King trifft Sidney Poitier

Unter der ungewöhnlichen Ästhetik verbergen sich die Bausteine einer klassischen Gefängniserzählung. Skizziert wird ein System der Entmenschlichung, das in den USA der 1960er-Jahre insbesondere auf rassistische Diskriminierung ausgelegt ist. Elwood ist ein aufgeweckter Schüler, der sich für Politik interessiert und daran glaubt, dass er in dieser Welt etwas verändern kann. Es ist wenig mehr als ein unglücklicher Zufall, dass er, ausgerechnet als er auf dem Weg ist, um sich in einer Universität einzuschreiben, seine Freiheit verliert. Die Freundschaft, die er mit Turner schließt, ist eine feinfühlig inszenierte Mischung aus Leichtigkeit und Rebellion. Eskapismus und Wut auf das System sind in Elwoods Leben keine Gegensätze, sondern Ergänzungen. Seine Idole sind Martin Luther King, der mit flammenden Reden über den Fernsehbildschirm flackert, und Sidney Poitier, den er in „Flucht in Ketten“ auf der Leinwand bestaunt.

Während Elwood in der Nickel Academy inhaftiert wird, wird Martin Luther King „I have a dream!“ in die Welt rufen, und Sidney Poitier wird als erster schwarzer Darsteller einen „Oscar“ erhalten. Der Weg zur Freiheit, sowohl für Elwood und Turner als auch für die Black Community als Ganzes, scheint irgendwo zwischen politischem Aktivismus und künstlerischem Ausdruck zu liegen. Die von RaMell Ross gewählte Darstellungsform, die an einer Schnittstelle von kompromisslosem Realismus und überspitzter Künstlichkeit angesiedelt ist, scheint das Resultat dieses Kontrastes zu sein.

Wörterbuch der Bildsprachen

Es wäre unfair, „Nickel Boys“ nur auf seine stilistische Umsetzung zu reduzieren, statt auf sein durchweg hervorragendes Ensemble oder sein feinfühliges Storytelling. Doch gerade diese ungewöhnliche Umsetzung ist das Nadelöhr, durch das sich das Publikum zwängen muss, um das darunterliegende Drama überhaupt erleben zu können. Für einige wird „Nickel Boys“ irgendwann klicken und der Wechsel der Perspektiven so natürlich sein, dass es keiner Anstrengung mehr bedarf. Doch für viele wird der Film bis zur letzten Szene einen gewissen Kraftaufwand mit sich bringen. Es fühlt sich beinahe an, als ob man eine neue Sprache lernt und sich, ehe die Gewohnheit einsetzt, für alles Gesehene Übersetzungsarbeit leisten muss, damit die Form den Inhalt nicht verschlingt.

Dieser Lernprozess wird aber belohnt. „Nickel Boys“ hätte sich sicherlich zugänglicher gestalten lassen, wenn er einen traditionelleren erzählerischen Ansatz gewählt hätte. Der Preis wäre gewesen, dass er sich wie fast jeder andere Film über das Leben im Gefängnis angefühlt hätte. RaMell Ross fügt dem Genre mit unnachgiebiger Konsequenz einen ungewöhnlichen Aspekt hinzu, der in seinen schwächsten Momenten wie ein interessantes Experiment wirkt, aber in seinen besten Momenten Stil und Story zu einem einmaligen Werk verschmelzen lässt. Die Vision hinter „Nickel Boys“ muss man nicht teilen, aber es wäre bedauerlich, sie nicht zu würdigen.

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