Das Deutsche Volk
Dokumentarfilm | Deutschland 2025 | 132 Minuten
Regie: Marcin Wierzchowski
Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 2025
- Produktionsfirma
- Milk and Water/Strandfilm Prod.
- Regie
- Marcin Wierzchowski
- Buch
- Marcin Wierzchowski
- Kamera
- Marcin Wierzchowski · Peter Peiker
- Musik
- Louisa Beck · Kaan Bulak
- Schnitt
- Stefan Oliveira-Pita
- Länge
- 132 Minuten
- Kinostart
- -
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 14.
- Genre
- Dokumentarfilm
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Dokumentarfilm über die Hinterbliebenen des rassistischen Anschlags in Hanau von 2020 und ihren Kampf für das Gedenken an die Opfer.
Die hessische Mittelstadt Hanau, 30 Kilometer östlich von Frankfurt am Main gelegen, ist der Geburtsort der Brüder Grimm. Die Stadt ehrt ihre berühmten Söhne bis heute auf dem Marktplatz mit einem Denkmal, auf dem die Inschrift „Dem deutschen Volk“ steht. Wäre es für die Einwohner Hanaus zumutbar, dass sich die Figuren des gelehrten Bruderpaars diesen Platz mit einem Denkmal für jene Bürger Hanaus teilen, die 2020 Opfer eines schrecklichen Verbrechens wurden? Ist es angebracht, am selben Ort an unrühmliche Taten von Vertretern des deutschen Volkes zu erinnern? Viele würden dies bejahen. Denn die meisten Menschen assoziieren Hanau heute eher mit dem rassistischen Anschlag von 2020 als mit den hessischen Märchensammlern und Sprachwissenschaftlern. Doch die Stadtverwaltung tut sich mit einem Denkmal für die neun Opfer auf dem Marktplatz schwer.
Zur Erinnerung: Am 19. Februar 2020 erschoss ein deutscher Rechtsextremist an verschiedenen Orten der Stadt neun Menschen, die ihm nicht „deutsch“ genug erschienen. Wenn die Polizei den Notruf eines der späteren Opfer, Vili Viorel Păun, der den Täter mit dem Auto verfolgte, angenommen hätte, wären weitere Menschen womöglich verschont geblieben. So aber erschoss der Attentäter Vili Viorel Păun und weitere Personen, ohne dass von den Ordnungshütern jemand zu sehen gewesen wäre.
Trauer und Wut
Der Dokumentarfilm „Das deutsche Volk“ von Marcin Wierzchowski begleitet die Überlebenden und Hinterbliebenen der Opfer des Hanauer Anschlags. Er zeigt ihre anhaltende Trauer, aber auch ihre Wut über die Aufarbeitung des Verbrechens. Denn mehrere Behörden haben am Tag der Tat und auch viele Wochen danach auf beruflicher wie menschlicher Ebene versagt und die Opfer mit ihrem Schmerz allein gelassen.
Vili Viorel Păun war der einzige Sohn eines aus Rumänien stammenden Roma-Paars. Zu Beginn des Films sieht man seinen Vater, der ein Mausoleum für ihn gebaut hat, wie er für ihn betet. Später stellt er auf dem Parkplatz vor dem Lidl-Supermarkt, wo ein Mahnmal für seinen Sohn errichtet wurde, das Verbrechen nach. Dreimal zielte der Täter auf den im Auto sitzenden 22-Jährigen, der sofort tot war. Obwohl er einen Personalausweis bei sich hatte, ließen Polizeibeamte seine Eltern 18 Stunden lang im Ungewissen; erst dann teilten sie ihnen den Tod ihres Sohnes mit.
Auch die Eltern von Sedat Sürbüz wussten viele bange Stunden lang nicht, dass ihr Sohn nicht mehr lebte. Über Sedat berichten sie vor der Kamera, dass er beruflich immer selbstständig sein wollte. Er sei sehr gepflegt gewesen und hätte sehr gut ausgesehen; er war einfach „the Boss“, sagt seine Mutter stolz. Der junge Mann wurde vor der Shisha-Bar „Midnight“ ermordet. Er war 29 Jahre alt.
Die Eltern von Hamza Kurtović wiederum konnten ihren Sohn in der Tatnacht nicht erreichen. Er wurde in der „Arena“-Bar neben dem Lidl erschossen. Doch als seine Eltern die Polizisten vor Ort verzweifelt fragten, ob ihr Sohn in der Bar gewesen sei, verneinten die Beamten. Später wurde in einem Polizeibericht eine Beschreibung des jungen Mannes publik: Er habe südländisch ausgesehen, ist dort zu lesen. Doch Sedat Sürbüz war blond und blauäugig. Auch die Totenwäsche konnte der Vater für seinen Sohn nicht leisten, denn die deutsche Bürokratie verlangt bei Verbrechen eine Obduktion – der Vater empfindet sie als Leichenschändung.
Mit Scham und ohne Voyeurismus
Das sind nur drei der neun Opfer von Hanau. Die weiteren hießen Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar, Kaloyan Velkov und Gökhan Gültekin. Auch andere Familienmitglieder kommen zu Wort, ebenso wie Überlebende. Sie erinnern mit Bildern und Geschichten an die Opfer, die eine Biografie hatten und nicht nur Zahlen in einer nüchternen Statistik waren.
Der Dokumentarfilm „Das deutsche Volk“, den Wierzchowski vier Jahre lang gedreht hat, ist in Schwarz-weiß gehalten, was ihm eine gewisse Sachlichkeit verleiht. Gleichzeitig verorten die Bilder die Tat in der Vergangenheit und vermitteln auch eine geschichtliche Kontinuität zu den dunklen Kapiteln der deutschen Geschichte. Tatorte werden ohne Voyeurismus gezeigt; so kann man sich besser in das Geschehen hineindenken. Die Scham der Überlebenden in der Arena-Bar mischt sich mit ihrem anhaltenden Trauma. Sogar Aufnahmen von dem Anschlag in der Arena-Bar gibt es, die sich die Überlebenden anschauen – die Kamera des Regisseurs zeigt diese Szenen wohlweislich nicht.
Wäre der Notausgang der Bar nicht geschlossen gewesen, hätte es wahrscheinlich weniger Opfer gegeben. Wer ist für diesen und andere Missstände verantwortlich? Wie steht es um zögerliche SEK-Beamte, die vor dem Haus des Täters versagten oder Sanitäter, die einen Überlebenden als menschlichen Schutzschild benutzten? Warum stellt der Innenminister im Hessischen Landtag der Polizei ein tadelloses Zeugnis für ihren Einsatz aus? Wieso hatte der zuvor bereits aufgefallene Täter überhaupt noch einen Waffenschein?
Mit all diesen Widersprüchen und Fragen sehen sich die Überlebenden und Hinterbliebenen allein gelassen. Schon sehr bald nach dem Anschlag organisierten sie sich, veranstalteten mitten in der Corona-Zeit Gedenkveranstaltungen und wurden von Außenstehenden unterstützt – etwa bei unabhängigen Untersuchungen der Tathergänge. Auch ihr Treffen mit Politikern filmt Wierzchowski. Einige geben sich Mühe, andere kommen über hohle Phrasen nicht hinaus, beschwichtigen und vertrösten die Trauernden oder schieben Verantwortung von sich. So fühlen sich die Hinterbliebenen doppelt verhöhnt. Sie äußern ihr Unverständnis und ihre Wut im Gespräch mit den Vertretern des Staates oder vor der Kamera des Regisseurs.
Das Denkmal auf dem Marktplatz
Ehrliche und mitfühlende Worte sind immerhin von Bundespräsident Steinmeier bei einer Gedenkfeier zu hören, und auch ein Untersuchungsausschuss bestätigt Jahre später die Ergebnisse unabhängiger Ermittler. Und schließlich ist da noch das endlose Beratschlagen über ein Denkmal für die Opfer am Marktplatz. Es zehrt an den Nerven der Familien, die sich lieber gar kein Mahnmal wünschen als eines, das an einem beliebigen Platz steht. Sie ergreifen mittlerweile andere, private Maßnahmen. Vili Viorels Eltern sind wieder nach Rumänien gezogen. In ihrem Dorf handelte man schneller. Dort ist eine Straße nach Vili benannt. Auch Çetin Gültekin, der Bruder von Gökhan Gültekin, hat den Anschlag überlebt und widmet sich dem Andenken Gökhans, der mit 37 Jahren starb. In dem Heimatdorf der Familie in der Türkei hat er seinen Bruder neben seinem Vater begraben. Er kann auf die Anteilnahme und Unterstützung der dortigen Bewohner zählen.
Noch einmal zurück zu den Brüdern Grimm. Sie zogen mit ihrer Familie als Kinder nach Steinau an der Straße um. Jakob Grimm hatte demnach nur sechs und Wilhelm Grimm fünf Jahre in Hanau verbracht. Viele der Opfer des 19. Februars haben dort deutlich länger gelebt.