Do You Love Me?
Coming-of-Age-Film | Ukraine/Schweden 2023 | 90 Minuten
Regie: Tonja Nojabrowa
Filmdaten
- Originaltitel
- TY MENE LUBYSH?
- Produktionsland
- Ukraine/Schweden
- Produktionsjahr
- 2023
- Produktionsfirma
- Family Prod./Common Ground Pic.
- Regie
- Tonja Nojabrowa
- Buch
- Tonja Nojabrowa
- Kamera
- Vilius Maciulskis
- Schnitt
- Tamuna Karumidze
- Darsteller
- Karina Chimtschuk (Kira) · Maxim Michajlitschenko (Lew) · Natalia Lasebnikowa (Wira) · Olexander Schila (Mischa) · Darja Palagnjuk (Liza)
- Länge
- 90 Minuten
- Kinostart
- -
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 16.
- Genre
- Coming-of-Age-Film | Drama
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Coming-of-Age-Drama über eine angehende ukrainische Schauspielerin, die Anfang der 1990er-Jahre während des Zusammenbruchs der Sowjetunion auch persönliche Umbrüche erlebt.
„Ist es leicht, jung zu sein?“, hieß ein sowjetisch-lettischer Dokumentarfilm aus dem Jahr 1986. Er war einer der ersten Filme aus der Glasnost-und-Perestrojka-Ära und für damalige Sowjet-Verhältnisse sehr offen. Auf die im Filmtitel enthaltene Frage würde die Protagonistin des rund 35 Jahre später entstandenen ukrainischen Dramas „Do you love me?“ wohl mit „Nein“ antworten. Die 17-jährige Kira (Karina Chimtschuk) lebt 1991 in Kiew im ukrainischen Teil der Sowjetunion, während diese gerade auf ihre Auflösung zuschreitet. Im Radio berichtet man über die dürftige Versorgungslage, aber auch über die Polizei in Alarmbereitschaft, über Studenten im Hungerstreik oder Verhandlungen mehrerer Parteien, die einen Bürgerkrieg verhindern wollen. Die Misswirtschaft ist allenthalben zu spüren. In den Geschäften gibt es kaum noch etwas zu kaufen. Auf der Straße und im Bus murren die Menschen; sie wären froh, wenn sie wenigstens Kartoffeln und Kohl noch regelmäßig kaufen zu könnten.
Menschen retten und Party feiern
Doch der Mangel an Konsumierbarem bereitet Kira am wenigsten Kummer. Die lebensfrohe, impulsive Jugendliche will Schauspielerin werden. Sie übt fleißig vor dem Spiegel, aber auch in der Schauspielschule. Sie will etwas erleben, feiern, glücklich sein. Zu Hause begehen die Eltern ihren 19. Hochzeitstag. Doch in ihrer Ehe kriselt es. Der Vater hat eine junge Geliebte.
Kira versucht, zwischen Mutter und Vater zu vermitteln. Als das nicht fruchtet, unternimmt sie einen Suizidversuch. Doch sie wird von dem jungen Notarzt Mischa (Olexander Schila) gerettet. Bald darauf beginnen beide eine Romanze, und Kira zieht bei dem 25-Jährigen ein. Er bewohnt ein Zimmer in einer typisch sowjetischen Kommunalwohnung, wo mehrere Familien miteinander leben und Bad und Küche teilen. Doch die Lebensumstände von Kira und Mischa sind zu unterschiedlich. Er muss arbeiten und Menschen retten, sie will mit ihren Freunden von der Schauspielschule Party feiern. So reiht sich auch Kiras erste Beziehung in die Unordnung ihres jungen Lebens ein, in dem nichts so läuft, wie es soll, und in dem die junge Protagonistin in ein Chaos der Gefühle stürzt.
Regisseurin Tonja Nojabrowa entwirft die Charakterstudie einer jungen, ungestümen Jugendlichen, zeichnet aber gleichzeitig auch eine treffende Skizze der im Zerfall befindlichen Sowjetunion. Zunächst fällt auf, dass die Figuren Ukrainisch sprechen, nicht Russisch, auch wenn ihr Lebensstil sehr sowjetisch geprägt und dem in der Russischen Sowjetrepublik sehr ähnlich ist. Da ist zum Beispiel der Opa von Kira, ein herzensguter Greis der alten Schule, der es sich nicht nehmen lässt, auch zum Hochzeitsjubiläum seiner Tochter mit seinen Orden aus dem Zweiten Weltkrieg an der Brust zu erscheinen. Seinen feierlichen Trinkspruch zu Ehren der Jubilare will allerdings niemand hören. Denn seine Generation wird aussterben, die neue Epoche nicht mehr gestalten.
Die Untergangsstimmung begießen
Um die schweren Zeiten zu meistern, trinken die Figuren viel Hochprozentiges. Man möchte die Untergangsstimmung begießen – mit Tanzen, Feiern und Galgenhumor. Alles, was die Menschen zu Geld machen können, wird verhökert – auf (Schwarz-)Märkten oder vor Geschäften. So kauft Kira einmal Tierknochen, um damit eine karge Suppe zu kochen. Dann wieder tauscht sie ihre Armbanduhr – Importware, wie sie stolz sagt – gegen ein lebendiges Kaninchen ein, das sie allerdings nicht schlachtet, sondern als Haustier hält. Andere fahren an die Grenze nach Polen, das seine politische Wende bereits hinter sich hat, und verkaufen Haushaltsprodukte.
In Mischas Kommunalwohnung will eine jüdische Familie nach Israel auswandern. Da pro Familienmitglied nur 20 Kilogramm an Habseligkeiten mitgenommen werden können, luchsen die anderen Mitbewohner den auf gepackten Koffern Sitzenden manche Wertgegenstände ab. Sie hoffen, dass das Ausreisevisum bald bewilligt wird, damit sie selbst in die leer werdenden Zimmer einziehen können.
Inmitten dieses persönlichen wie politischen Getümmels bewegt sich die noch sehr kindlich-naiv wirkende Kira, die sich die Zeit, in der sie jung ist, nicht ausgesucht hat. Ihre Verlustängste äußert sie wiederholt mit der an verschiedene Personen gerichteten existenziellen Frage: „Liebst du mich?“ Doch so richtig gehört sie nirgendwo hin, und ihre Sehnsucht nach Liebe wird nicht so erwidert, wie sie es sich wünscht.
So unwirtlich wie die Jahreszeiten
Die Kulissen des Coming-of-Age-Dramas sind so unwirtlich wie die Jahreszeiten, in denen es spielt. Sie spiegeln im übertragenen Sinne auch das Ende einer Ära wider. Im Herbst tollt Kira mit ihren Freunden noch durch das Laub der kahlen Bäume; im Winter wird es dann richtig ungemütlich. Die Heizung im Lehrgebäude fällt aus, Leute laufen dick eingemummelt durch schneebedeckte Straßen, Institutionen werden geschlossen. Zwar sind die Menschen noch sehr sowjetisch angezogen; manche schneidern sich ihre eigene Kleidung, etwa fesche Jeansjacken. Doch ihr Blick ist Richtung Westen gerichtet. Auf einem Markt an den Gleisen sind Raub-VHS-Kassetten von westlichen Filmen sehr gefragt, etwa „Terminator“ oder „Rambo“, aber auch Musikkassetten von Madonna. Auf der Party ihrer Eltern probiert Kira westliche Kaugummis oder schlürft Pepsi Cola.
Trotz der sehr realistischen, detailreichen Nachstellung der sowjetischen Gesellschaft gibt es sicher auch andere Assoziationen. Inmitten der grauen Wohnsiedlungen stehen architektonisch schönere, vorrevolutionäre Gebäude oder Häuser aus der Stalinzeit. Sie befinden sich oft in keinem guten Zustand; einmal betrachtet Kira ein Haus, an dem die gesamte Eckseite herausgerissen ist. Bilder von zerschossenen Häusern aus dem aktuellen Krieg in der Ukraine drängen sich auf. Zu der im Film spielenden Zeit schien ein – wenn auch mühsamer – Übergang von der Sowjet-Ukraine hin zu einer demokratischen Ukraine noch machbar. Heute steht viel mehr auf dem Spiel: die physische Existenz des Landes und seiner Menschen.