Krimi | Indonesien 2024 | 110 Minuten

Regie: Edwin

Eine Ermittlerin aus Jakarta soll im Grenzgebiet zwischen Indonesien und Malaysia einen bizarren Mordfall aufklären. In der Region, in der die indigene Bevölkerung der Polizei misstraut und Korruption und Kriminalität regieren, wird sie zusammen mit einem einheimischen Polizisten bald mit weiteren Morden konfrontiert. Ein düsterer Kriminalfilm, der die Konvention des Genres nutzt, um anhand der Serienmorde den Echos der Konflikte um die Staatsgründung Malaysias in den 1960er-Jahren nachzuspüren. Neben staatlicher Korruption legen die Ermittlungen vor allem alte Konfliktlinien, verdrängte Traumata und gescheiterte Utopien frei. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
KABUT BERDURI
Produktionsland
Indonesien
Produktionsjahr
2024
Produktionsfirma
Palari Films
Regie
Edwin
Buch
Edwin · Ifan Ismail
Kamera
Gunnar Nimpuno
Musik
Abel Huray · Dave Lumenta
Schnitt
Chonlasit Upanigkit · Ahmad Hasan Yuniardi
Darsteller
Putri Marino (Sanja) · Yoga Pratama (Thomas) · Lukman Sardi (Panca) · Yudi Ahmad Tajudin (Bujang) · Yusuf Mahardika (Silas)
Länge
110 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Krimi | Thriller
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Thriller um eine Ermittlerin aus Jakarta, die im Grenzgebiet zwischen Malaysia und Indonesien eine Reihe grausamer Morde untersucht.

Diskussion

In seinem Kurzfilm „Trip to the Wound“ (2008) erzählt der indonesische Filmemacher Edwin von einer Frau namens Silla, die mit großem Eifer die Geschichten hinter Narben sammelt. Zuerst die von Familienmitgliedern, dann zunehmend auch solche von Fremden. Ein Selbstporträt des Künstlers als Narbensammler. Denn bei Edwin erwachsen Erzählungen oft aus Versehrungen. Etwa aus dem Verlassenwerden in „Postcards from the Zoo – Die Nacht der Giraffe“ oder dem Verlust eines Elternteils in „Posesif“. Uneben verwachsenes Gewebe wird zu Brailleschrift, die zur Entschlüsselung nur noch einer sanften Berührung bedarf.

Grenzen sind die Narben der Historie, oft gewalttätig und willkürlich in Landmassen geschlagen. Edwins neuer Film „Borderless Fog“ ist auch eine „Reise zur Wunde“, nur eben eine durch dichte Nebelbänke. Rein visuell ist es ein durchschaubarer Film; dafür aber ist der Blick auf Zusammenhänge, Allianzen und Motive sichtlich getrübt.

Ein bizarrer Mordfall an der Grenze

Die Kriminalgeschichte beginnt mit einem Opfer, dass vom Himmel stürzt. Mit einem donnernden Geräusch schlägt der Tote auf das Dach einer kleinen Imbissbude direkt an der Grenze zwischen Indonesien und Malaysia. Präziser müsste man von zwei Toten sprechen, denn es handelt sich bei dem Leichnam eigentlich um eine hybride Kreatur: halb Indonesier, halb Malaysier; halb Militär, halb indigener Freiheitskämpfer. Der Kopf des Soldaten Tariq wurde auf dem Torso von Juwing platziert, einem Aktivisten der einheimischen Dayak.

Die indigene Bevölkerung auf Borneo steht der Polizei skeptisch gegenüber; die Menschen wollen aber dennoch wissen, wer Juwing ermordet hat. Das Grenzgebiet gilt als Ort der Korruption, das weitgehend unter der Kontrolle von Menschenhändlern, Gangstern und Schmugglern steht. Die Ermittlerin Sanja Arunika (Putri Marino) wird aus Jakarta gesandt, um den Fall zu lösen, denn wirklich Verantwortung übernehmen will keine der beiden Nationen.

Genrekino ist in den letzten Jahrzehnten zu einer faszinierenden Form internationaler Kommunikation geworden. Vertraute Erzählmuster schaffen einen Kontext, der regionale Spezifika greifbar macht. Gerade die vermeintliche Formelhaftigkeit öffnet einen Raum für Variation. Die Suchbewegung von Kriminalgeschichten kann etwa dabei helfen, historische Wunden freizulegen.

„Borderless Fog“ erinnert in dieser Hinsicht an Filme wie „Memories of Murder“ von Bong Joon-ho, in dem nationale Traumata ebenfalls die Form einer kaum lösbaren Mordserie annehmen. Denn auf den ersten Toten folgen noch viele weitere, verbunden durch zunehmend schwerer nachvollziehbare Kausalketten. Edwin arbeitet mit Ellipsen, Irrwegen und Kippfiguren, gefällt sich im Grundmodus universeller Ambivalenz. Alle Figuren präsentieren sich unvollendet und suchend, mit brüchigen Lebensläufen und Identitäten. Grenzenloser Nebel versperrt den Blick auf andere und sich selbst.

Die Vergangenheit ragt in die Gegenwart

Der wichtigste Unterstützer der Ermittlerin ist der Polizist Thomas (Yoga Pratama), der im Widerspruch zwischen Beruf und seiner ethnischen Herkunft als Dayak gefangen ist. Arunika kann dem sanftmütigen Mann so wenig trauen wie dem lokalen Polizeichef oder verschlagenen Unterweltbossen. Überall existieren unsichtbare Wände und Linien, kulturelle Codes und mythologische Halbwahrheiten. Die Informationsdichte des Films ist hoch. Wie beiläufig ins Bild ragende Artikel oder Poster erzählen sie eine Geschichte von Gewalt und Unterdrückung. So ist etwa Arunikas Frühstück in Zeitungspapier eingeschlagen, auf dem „20 Jahre tragischer Rassenkonflikt in Sampit“ zu lesen ist. Während die Polizistin ermittelt, setzen sich für die Zuschauer die immer noch nachwirkenden politischen Ereignisse der Vergangenheit zusammen. Die Fragen sind in beiden Fällen dieselben: Was ist passiert? Warum, wo, wann? Was haben die Dayak und die Maduresen damit zu tun? Wer trägt die Schuld? Wo liegen die Narben verborgen? Sind die Wunden wirklich verheilt oder müssen sie noch einmal aufgerissen werden?

In den Ruinen gescheiterter Utopien

Die interessanteste Figur des Films ist eine, die wahrscheinlich gar nicht einmal existiert. Die Anwohner sprechen ehrfürchtig von Ambong, dem Geist eines kommunistischen Widerstandskämpfers. Eine zornige folkloristische Projektion, ein Schutzheiliger der Verlorenen. Die Texttafel zu Beginn des Films erzählt von dem Konflikt zwischen indonesischem und malaysischem Militär auf der einen und den kommunistischen PARAKU-Truppen auf der anderen. Der Konflikt um die Gründung Malaysias Mitte der 1960er-Jahre endete je nach Zeitrechnung zwischen 1966 und 1990, wirkt aber noch immer nach.

„Borderless Fog“ ist damit ein offensiv postkolonialer, in gewisser Weise sogar hauntologischer Film (im Sinne einer Studie über eine Heimsuchung), erfüllt von dem Geist einer Zukunft, die sich nie ganz manifestiert hat.

Anwohner wie der alte Wachmann Bujang (Yudi Ahmad Tajudin) leben unzufrieden in den Ruinen gescheiterter Utopien. Die korrumpierte Gegenwart wirkt für die früheren Kämpfer im Kontrast zu den zerbrochenen Träumen noch mal finsterer. In einem Interview zu „Postcards from the Zoo“ spricht der Regisseur von der „Verwirrung“, die in seiner Heimat Indonesien existiere, von einem „Gefühl der Hoffnungslosigkeit angesichts der gegenwärtigen Situation“, aber auch von einem „starken Geist und dem Gefühl von Zugehörigkeit, Loyalität und Hoffnung“. „Borderless Fog“ macht sich auf ähnliche Weise zum Seismographen für die Gefühle einer Welt, in der alte und neue Bündnisse sich im Nebel verlieren. Verlorene Figuren irren wie Marionetten ohne Fäden umher, einsame Kinder gehen im Urwald verloren, Zorn und Frustration machen sich breit.

Ein Gefühl kollektiver Schuld

Mehr und mehr Menschen kommen im Laufe des Films als Verdächtige für die seltsam ritualisierten Morde in Frage. Immer mehr abgetrennte Köpfe werden entdeckt. Es entsteht zunehmend ein Gefühl von kollektiver Schuld. Der erste Leichnam, zusammengesetzt aus Männern zweier Nationen, wird zur Metapher: Die Grenze zwischen den Ländern verläuft durch jeden Einzelnen, gräbt sich wie ein Messer durch Fleisch, Knochen und Sehnen.

„Borderless Fog“ könnte damit auch mit der Frage enden, die am Ende der Geschichtensammlerin Silla in „Trip to the Wound“ gestellt wird: „Wo ist deine Narbe?“

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