Dokumentarfilm | Deutschland/Armenien 2023 | 96 Minuten

Regie: Daniel Kötter

Eine filmische Reise durch das von Bergen eingehegte armenisch-aserbaidschanische Grenzgebiet, das seit Langem umkämpft ist. Die psycho-geografische Studie interessiert sich aber mehr für die vielfältigen Verflechtungen von Landschaft, Bergbau, Krieg und Vertreibung und leiht den Menschen vor Ort eine Stimme. Auf der Fahrt vom Sewansee bis zur Goldmine Sotk entwirft der Film das kaleidoskophafte Bild einer Region, die sich einfachen Zuschreibungen verweigert. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland/Armenien
Produktionsjahr
2023
Produktionsfirma
Daniel Kötter
Regie
Daniel Kötter
Buch
Daniel Kötter
Kamera
Daniel Kötter
Musik
Sarer Kaghechem · Gusam Sheram
Schnitt
Daniel Kötter
Länge
96 Minuten
Kinostart
30.05.2024
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
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Kontemplativer Filmessay über die Region Bergkarabach, die den vielfältigen Verflechtungen von Landschaft, Bergbau, Krieg und Vertreibung nachspürt und sich behutsam den Menschen nähert.

Diskussion

In der Ferne erstreckt sich eine gleichmäßige Gebirgskette; Schnee liegt auf den Gipfeln. Dass sie umkämpftes Territorium ist, sieht man ihr nicht an. Rein gar nichts deutet auf Krieg hin. Die Landschaft wirkt vielmehr eigentümlich neutral, unbeschrieben. Unten in der Steppe stehen zwei Männer in einiger Distanz mit dem Rücken zur Kamera: „Gehören die Berge da drüben denen?“ – „Nein. Diese Anhöhen gehören uns. Unsere Soldaten sind dort. Aber die anderen sind nah.“

Blickdistanzen und das Wissen um die Nähe eines unsichtbaren kriegerischen Konflikts machen das Spannungsverhältnis in der psychogeografischen Erkundung „Landshaft“ (so der armenische Begriff) aus. Vielleicht sind die beiden Männer, die sich im Visier der Kamera des Dokumentaristen Daniel Kötter befinden, in diesem Moment auch das Objekt einer anderen Observation. In ihrem Gespräch ist jedenfalls von der Landschaft als einem bedeutenden Faktor im Krieg die Rede: „In den Bergen kann man nur von oben sehen. Überwachen von oben ist wichtig.“ Inzwischen sind andere Mittel der Aufklärung hinzugekommen, Satelliten und Drohnen. Um den Feind auszuspähen, muss man nicht mehr notwendigerweise auf eine Anhöhe steigen.

Unterwegs mit einem klapprigen Lada

Bruchstückhaft entfalten sich in „Landshaft“ persönliche Geschichte und Wissen über eine geopolitisch aufgeladene Gegend. Der ethno-territoriale Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan um die gebirgige Grenzregion Bergkarabach reicht bis ins 18. Jahrhundert zurück. Doch erst mit dem Zerfall der Sowjetunion eskalierten die Kämpfe zu einem Krieg. Nach der Unabhängigkeitserklärung des überwiegend armenisch besiedelten Gebiets folgten mehrere Militäroffensiven durch Aserbaidschan, zuletzt im September 2023. Kötters Interesse ist jedoch weniger aufs (Ein-)Ordnen aus; eher geht es ihm um die vielfältigen Verflechtungen von Landschaft, Bergbau, Vertreibung und Krieg. Vehikel des Films ist im wörtlichen Sinn der klapprige Lada, der die karge Grenzlandschaft vom Sewansee bis zur Goldmine Sotk durchmisst.

„Landshaft“ verzichtet auf die Zeugenschaft von Talking Heads und verlagert die Interviews mit Ortsbewohnern, Minenarbeitern und Kämpfern stattdessen konsequent ins Off. Kötter hat sie nicht selbst geführt, sondern an in der Region lebende Mitarbeiter:innen delegiert. Dabei ist der Ton mit den Menschen, die im Bild zu sehen sind, häufig nicht synchron. Überhaupt vermeidet die Perspektive des Films jede Form der Subjektivierung. Man sieht so gut wie keine Gesichter, selbst dann nicht, wenn sich die Kamera einmal in die Wohnräume einer Bergarbeitersiedlung hineinbegibt.

Distanz & extreme Nähe

Der filmische Blick, der oft etwas Maschinelles, Abtastendes hat, ist nicht an menschliche Akteure gebunden. Einmal folgt er minutenlang den Stahlscharen eines Kartoffelpflugs. „Landshaft“ ist ein Film der Distanzen und extremen Nahsichten.

Die Gespräche kreisen um die Existenzweisen in der Gegend. Neben dem Kartoffelgeschäft gibt es Schafherden und die umkämpfte Goldmine, deren Erträge auf den immer wieder zu sehenden Güterzügen außer Landes gebracht werden. Bevor die aserbaidschanische Armee einen Teil der Mine besetzte, haben Armenier und Russen dort gemeinsam gearbeitet. Heute verläuft eine Grenze durch die Mine; nur wenige Meter liegen zwischen aserbaidschanischen Soldaten und den armenischen Truppen. Die Angst um den Verlust ihres Arbeitsplatzes ist ein ständiger Begleiter der Menschen. Rechtlich ist die Mine im Besitz eines russischen Unternehmens.

Die Schafe ziehen munter weiter

Eine Frau fragt sich verwundert, wie plötzlich ethnischer Hass entstehen konnte; früher seien sie bei Aserbaidschanern zu Hause gewesen und bei Hochzeiten zu Gast. Ein Mann erzählt von seiner langjährigen Freundschaft mit einem „Turk“ während der Sowjetzeit: „Da gab es keine Grenze.“ Nachdem er mit Ausbruch des Krieges fliehen musste, habe ihm dieser seinen ganzen Besitz überlassen wollen. Auch eine 57-jährige Frau, die sich als „Kampf-Mädchen“ bezeichnet, kommt zu Wort. Sie hat an drei Kriegen teilgenommen und bereits 12 Verwandte verloren. Dennoch gibt sie sich kämpferisch.

Oftmals aber herrscht Verwirrung über territoriale Grenzen und Besitzverhältnisse. Ein armenischer Mann, der vor dreißig Jahren als Flüchtling in die Gegend kam, fragt fast verzweifelt, wem denn nun das Land gehöre. Er möchte wissen, ob er gehen oder bleiben soll. Mit jeder Stimme schreibt sich eine weitere Schicht in die Landschaft ein.

Allein den Schafen sind die Grenzen gleichgültig. Wenn „Landshaft“ am Ende der Reise vor aserbaidschanischem Gebiet angelangt ist, laufen sie munter weiter.

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