Die leisen und die großen Töne
Komödie | Frankreich 2024 | 104 Minuten
Regie: Emmanuel Courcol
Filmdaten
- Originaltitel
- EN FANFARE
- Produktionsland
- Frankreich
- Produktionsjahr
- 2024
- Produktionsfirma
- Agat Films & Cie/France 2 Cinéma
- Regie
- Emmanuel Courcol
- Buch
- Emmanuel Courcol · Irène Muscari · Oriane Bonduel
- Kamera
- Maxence Lemonnier
- Musik
- Michel Petrossian
- Schnitt
- Guerric Catala
- Darsteller
- Benjamin Lavernhe (Thibaut Desormeaux) · Pierre Lottin (Jimmy Lecocq) · Sarah Suco (Sabrina) · Clémence Massart (Claudine) · Ludmila Mikaël (Mme Desormeaux)
- Länge
- 104 Minuten
- Kinostart
- 26.12.2024
- Fsk
- ab 0; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 14.
- Genre
- Komödie
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Mischung aus anrührendem Geschwisterdrama und Komödie um zwei vom Leben sehr ungleich behandelte Brüder, die in der Musik eine gemeinsame Basis für eine Annäherung finden.
Die Musik hat die Bergleute überlebt. In der kleinen nordfranzösischen Stadt Walincourt wird schon lang nicht mehr unter Tage gearbeitet. Doch die einst eigens dafür gegründete Blaskapelle besteht noch immer. Auch wenn die Voraussetzungen angesichts schließender Fabriken und hoher Arbeitslosigkeit denkbar schlecht sind, schweißt das gemeinsame Musizieren die Bläserinnen und Bläser noch immer zusammen. Selbst wenn eine der Klarinettistinnen nur nach Gehör spielt, die Hörfähigkeit eines älteren Mitspielers stark eingeschränkt ist und private Animositäten bei den Proben nicht außen vorbleiben, spielt die Kapelle auf einem verlässlichen Niveau. Jedenfalls gut genug, um auf einen Sieg beim Musikwettbewerb in der Nachbarstadt zu hoffen. Auch das hierfür angedachte Stück, der „Triumphmarsch“ aus Verdis „Aida“, liegt durch seinen häufigen Einsatz als Sporthymne nahe, da man in dieser Region so nur die Wahl „zwischen Blasmusik und Fußball“ hat, wie es der junge Posaunist Jimmy (Pierre Lottin) auf den Punkt bringt.
Zwei Welten prallen aufeinander
Der französische Filmemacher Emmanuel Courcol malt in seiner dramatischen Komödie „Die leisen und die großen Töne“ den Schauplatz mit sorgfältigen Pinselstrichen aus, ohne den sozialen Hintergrund überzustrapazieren. Das Szenario um die kleine Blaskapelle, die den schwierigen Rahmenbedingungen tapfer trotzt, erinnert an „Brassed Off“. Doch anders als in dem englischen Film spielt der soziale Kampfgeist der Protagonisten hier keine große Rolle mehr. Im Grunde wissen alle, dass sie die Kämpfe verloren haben; ebenso steht fest, dass die Tage der Blaskapelle gezählt sind.
Courcol beginnt seinen Film überdies auf einer ganz anderen Note. In der filmischen Ouvertüre ist das Thema Musik fast ausgeklammert. Die Hauptfigur, der erfolgreiche Dirigent Thibaut (Benjamin Lavernhe), wird darin mit einer Leukämie-Erkrankung konfrontiert, die eine Knochenmarkspende erforderlich macht. Dafür kämen vor allem enge Verwandte in Betracht. Allerdings erfährt Thibaut bei dieser Gelegenheit, dass er als Kind adoptiert wurde und seine Mutter und Schwester ihn somit nicht retten können.
Zum Glück lassen sich aber die Umstände seiner Herkunft rekonstruieren, und so sitzt Thibaut bald darauf im Wohnzimmer von Jimmy, der niemand anderer als sein Bruder ist. Der Mitarbeiter in der Schulkantine fühlt sich vom Anliegen des schnöseligen fremden Mannes überrumpelt, stimmt einer Spende dann aber doch zu. Der kurze Aufenthalt in Paris anlässlich des Eingriffs scheint ihm die Unvereinbarkeit ihrer beiden Welten zu bestätigen; einen weiteren Kontakt müsste es aus Jimmys Sicht nicht geben.
Wie man dennoch zueinander findet
Erst nach diesem Auftakt enthüllt „Die leisen und die großen Töne“ allmählich sein eigentliches Thema. Denn die entfremdeten Brüder kommen einander entgegen ihrer eigenen Annahme doch näher, als sich ihre gemeinsame Leidenschaft für Musik offenbart. Thibaut entdeckt in seinem Bruder einen talentierten Musiker, der in der Blaskapelle völlig unterfordert ist. Als der Gruppe ihr Dirigent abhandenkommt und die Wettbewerbsteilnahme auf der Kippe steht, überzeugt er den widerstrebenden Thibaut, dass er die Leitung übernehmen soll. Über die von Thibaut bereitwillig gegebene Nachhilfe baut sich langsam die Distanz zwischen den Brüdern ab, was bei Jimmy sogar kurzfristige Träume erzeugt, als Musiker in andere Sphären vorzustoßen.
Doch so leicht will es sich der Film mit dem Weg zum herzerwärmenden Moment des Triumphs nicht machen. Immer wieder verschieben sich die Vorzeichen und kommt es zu erzählerischen Erschütterungen, auf die aber sogleich eine neue Hoffnung folgt. Wie in britischen Sozialkomödien oder auch in US-Vorbildern wie „Silver Linings“ behauptet Courcol keine wundersamen Entwicklungen, sondern setzt auf kleine Fortschritte bei den vom Leben gezeichneten Figuren, die sich ihre Würde bei allen Rückschlägen nicht nehmen lassen.
Dem trüben nordfranzösischen Wetter und den wenig ansehnlichen Steinfassaden zum Trotz findet Kameramann Maxence Lemonnier Wege, vor allem den Innenräumen eine große Wärme zu geben. Das unterstreicht die raue Herzlichkeit, mit der die Figuren miteinander umgehen, wie es vor allem bei den Probenszenen auffällt. Es gelingt Courcol und seinen Co-Autorinnen Irène Muscari und Oriane Bonduel, rund ein Dutzend Nebencharaktere zu entwerfen, die farbenfroh den Hintergrund ausfüllen, während sich im Zentrum das Drama zwischen den Brüdern zuspitzt.
Denn im Kern ist „Die leisen und die großen Töne“ ein Drama über eine höchst komplexe Geschwisterbeziehung, auf der die unterschiedlichen Bedingungen des Aufwachsens als Schatten liegen. Für Jimmy, der sich selbst als „nicht gerade einfach“ beschreibt, ist die Begegnung mit dem weltbekannten Dirigenten-Bruder eine weitere Wunde in seinem als permanentes Scheitern empfundenen Leben. Thibaut hingegen sieht in seinem Bruder eine musikalische Begabung, die der seinen ebenbürtig sein könnte, und hadert mit seiner Adoptivmutter, die durchaus die Option gehabt hätte, beide Jungen bei sich aufzunehmen.
Beethoven und Charles Aznavour
Die Frage nach dem sozialen Determinismus spielt durchweg in die Erzählung hinein, ohne aufdringlich zu werden, umso mehr als die unterschiedlichen „Musikwelten“ nicht gegeneinander ausgespielt werden. Thibauts Arbeit mit hochklassigen Orchestern an Beethoven und Mendelssohn zollt der Film ebenso Respekt wie den Aznavour- und Sardou-Interpretationen der Amateurmusiker, da er beide Sphären als Ausdruck der gleichen Spielfreude präsentiert und gleichberechtigt nebeneinanderstellt. Die von Versöhnlichkeit geprägte Haltung gegenüber jeder Leidenschaft für die Musik trägt viel dazu bei, aus „Die leisen und die großen Töne“ einen mitreißenden Unterhaltungsfilm zu machen.
Einen sehr großen Anteil haben daran auch die beiden famosen Hauptdarsteller. Benjamin Lavernhe streift die egozentrischen Figuren, mit denen er von der Komödie „Birnenkuchen mit Lavendel“ an seinen Leinwandruhm begründete, ab und gibt Thibaut eine anrührende Offenheit und Verletzlichkeit, die zwar Bewusstsein für das eigene Können, aber keinerlei Überheblichkeit ausstrahlt. Der kernige Pierre Lottin ist ihm ein kongenialer Partner, der das Gegängelte und Zurückgestoßene seiner Figur mühelos neben rebellische Neigungen, aber ebenso auch gegen ein starkes Anlehnungsbedürfnis stellt.
Über dieser sich behutsam annähernden Brüderkonstellation findet der Film zu einem aufmerksamen, mitfühlenden Blick auf eine vom Glück nicht gesegnete Region und feiert nebenbei gänzlich unsentimental die Macht der Musik. Denn während Traditionen und auch Menschen irgendwann vergehen, hallen die Töne von Orchestern und Kapellen lange nach und setzen sich unmittelbar in Kopf und Herz fest.