Nüshu - Die geheime Sprache der Chinesinnen
Dokumentarfilm | China 2022 | 84 Minuten
Regie: Violet Du Feng
Filmdaten
- Originaltitel
- HIDDEN LETTERS
- Produktionsland
- China
- Produktionsjahr
- 2022
- Produktionsfirma
- Fish+Bear Pic./Ten Thousand Images/ITVS/ZDF/arte
- Regie
- Violet Du Feng · Zhao Qing
- Buch
- Violet Du Feng · John Farbrother
- Kamera
- Feng Tiebing · Wei Gao
- Musik
- Chad Cannon · Leona Lewis
- Schnitt
- John Farbrother
- Länge
- 84 Minuten
- Kinostart
- -
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 14.
- Genre
- Dokumentarfilm
- Externe Links
- IMDb
Dokumentarfilm über die Geheimschrift-Sprache Nüshu, mit der sich chinesische Frauen in patriarchalischen Zeiten untereinander verständigten und deren Beherrschung noch immer ein feministisches Statement ist.
Eine Hängebrücke, ein kleines Wehr, ein Teich … mit stimmungsvollen Bildern aus der chinesischen Provinz beginnt der Film. „Das ist mein Dorf“, sagt die junge Xin. Als kleines Mädchen hörte sie von einem Geheimnis, das nur die Frauen im Ort kannten. Es ging um Nüshu, die geheime Sprache chinesischer Frauen. In früheren Zeiten durften diese nicht lesen und schreiben lernen. Sie lebten wie Gefangene unter der Herrschaft ihrer Väter, Ehemänner und Söhne, denen sie zu bedingungslosem Gehorsam verpflichtet waren. Nüshu wurde für sie zum Ausweg aus der aufgezwungenen Einsamkeit, sie kalligraphierten die eleganten Schriftzeichen auf Fächer und Taschentücher, füllten Hefte und Bücher damit und tauschten sie mit anderen Frauen aus. Viele Texte waren kurz, aber es gab auch Gedichte, Lieder und Briefe in Nüshu. Wenige Frauen, die heute noch leben, haben die Schrift, so wie es früher Tradition war, von ihren Müttern oder Tanten gelernt. Eine von ihnen ist He Yanxin, Xins Freundin, die noch in vormaoistischer Zeit geboren wurde. Nüshu bedeutete für sie und die anderen Frauen Rebellion und Trost zugleich. Dank Nüshu konnten sie mit ihren Schwestern, wie sie sich nannten, in Verbindung bleiben.
Inzwischen gibt es in der Provinz Jiangyong ein Nüshu-Museum, in dem Xin arbeitet. Sie ist eine der Botschafterinnen, die das Museum und die Nüshu-Kunst nach außen vertreten. Die Sopranistin Simu hingegen kennt Nüshu erst seit ein paar Jahren. Sie lebt in Shanghai, wo sie Gesangsunterricht gibt und als Sängerin auftritt, manchmal auch mit Nüshu-Liedern.
Sprache mit meditativer und prägender Wirkung
Die Regisseurin Violet Du Feng erzählt in ihrem sehr sehenswerten Dokumentarfilm „Nüshu – Die geheime Sprache der Chinesinnen“ nicht nur die Geschichte der Geheimschrift, sondern sie begleitet Xin und Simu in ihrem Alltag – zwei sehr unterschiedliche Frauen, die sich nicht persönlich kennen. Auf den ersten Blick ist Nüshu ihre einzige Gemeinsamkeit, die auf beide eine ähnliche meditative und prägende Wirkung hat. Du Feng stellt Xin und Simu in lockeren Szenenfolgen nebeneinander und schlägt darüber einen Bogen, der weit über den Umgang mit Nüshu hinausgeht. Zwischen diesen rein beobachtenden Alltagsszenen arbeitet sie viel mit schlaglichtartigen Bildern – Hauseingänge, Fenster, schmale Gassen, vielleicht als Erinnerung an die kleine Welt der chinesischen Frauen in früheren Zeiten, als sie mit gebundenen Füßen dazu verurteilt waren, im Haus zu bleiben.
Die Ruhe des Films überträgt sich beim Zuschauen, und seine eigentliche Raffinesse, die sich aus seiner subversiven Erzählweise ergibt, erschließt sich erst nach und nach. Das Ergebnis ist ein mitreißendes Statement über die Stellung der Frau im modernen China.
Über die Stellung der Frau
Nüshu ist der rote Faden, der beide Frauen bewegt und beeinflusst, so wie einst He Yanxin. Die alte Frau wird zur Leitfigur, was nicht nur ihrer Abgeklärtheit, sondern auch ihrem Selbstvertrauen zu verdanken ist, von dem Xin und Simu zu Beginn weit entfernt sind. Über die drei Frauen und ihre Beziehung zu Nüshu führt Du Feng ihren Film auf ein Statement zu, in dem Xins und Simus Situation exemplarisch für die Stellung der Frau im modernen China steht. Simu ist zu Beginn glücklich verliebt – das ändert sich im Laufe des Films. Der obligatorische Besuch bei der Familie ihres Verlobten auf dem Land zeigt die Differenzen zwischen ihr und ihm, zwischen Stadt und Provinz. Es gelten offenbar die alten Regeln: Der Mann bestimmt, die Frau hat sich zu fügen.
„Als Frau habe ich versagt“, sagt Xin von sich. Ihr Mann wünschte sich einen Sohn, sie war mit einer Tochter schwanger und ließ sie im 6. Monat abtreiben. Xin ist geschieden und kann das offenbar nur schwer verkraften. Doch Violet Du Feng verzichtet auf klare Worte – sie lässt ihre Protagonistinnen in Andeutungen sprechen, ähnlich wie es in Nüshu üblich war, ohne Anklagen und ohne Schuldzuweisungen.
Merkwürdige Blüten der Tradition
China erscheint bei Violet Du Feng als Land, in dem sich die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau darin zeigt, dass Frauen genauso schwer wie die Männer arbeiten, aber zusätzlich den Haushalt und die Kindererziehung stemmen müssen. Die traditionellen Werte sind immer noch lebendig, nicht nur auf dem Land, und treiben teils merkwürdige Blüten. Da gibt es eine „Prinzessinnenschule“, in der kleine Mädchen in hübschen Kleidern gedrillt werden: Ein Leben wie im Film soll denjenigen winken, die sich still und angepasst verhalten, immer schön die Arme eng am Körper und die Füßchen beieinander. Wie es scheint, hat sich das Frauenbild in den letzten 80 Jahren kaum geändert.
Xin wird bei ihrer Arbeit ganz offen von Männern belästigt, und Simu muss sich mit dem Gedanken befassen, dass sie nach der Heirat ihren Beruf und ihr Hobby Nüshu aufgeben muss, wenn ihr Mann das verlangt. Ausgerechnet auch der ehemalige Direktor des Nüshu-Museums legt offen sein altertümliches Frauenbild dar: Für ihn sind Gehorsam, Akzeptanz und Belastbarkeit die wesentlichen weiblichen Qualitäten.
Violet Du Feng macht keinen Hehl aus ihrer Meinung von den ignoranten chinesischen Männern. Sie stellt die Bilder von zurückhaltenden, stillen Frauen den Bildern von lauten, rüpelhaften Männern gegenüber, die miteinander trinken und schwadronieren. Was Frauen früher in der Schrift sahen, was sie ihnen heute noch bedeutet, interessiert diese Männer nicht. Sie wollen daraus ein Geschäft machen. Das Zauberwort heißt Marketing, die Kommerzialisierung von Nüshu schreitet voran. Du Feng zeigt eine Messe in Macao, wo geschäftstüchtige Manager Produkte mit Nüshu-Schrift als Dekoration verkaufen, während Xin, die Botschafterin für Nüshu, allein an ihrem Stand steht und unter den Kommentaren der vorbeigehenden Männer ihre Schriftzeichen kalligraphiert. Offenbar sind chinesische Männer vollkommen schmerzfrei, wenn es ums Geschäft geht.
Ein eleganter Kranich
„Mein Taschentuch ist fünf Fuß lang“, heißt es in dem Nüshu-Lied, das am Ende gesungen wird. Dazu zeigt Violet Du Feng Mädchen und Frauen, junge und alte. Langsam lösen sich die ernsten Gesichtszüge. Sie lächeln, sie lachen. Und aus einem roten Nüshu-Schriftzug wächst ein eleganter Kranich, der davonfliegt.