Die ersten 20 Minuten dieses Arbeitslebensliebesfilms kreisen ums Einander-Erkennen und Nicht-Erkennen. Da tut der Film noch so, als könnte das Mutieren und Verwechseln von Menschen inmitten eines ansonsten sozialrealistischen Settings die Zutat für eine ins Surreale und leicht Bedrohliche verschobene Liebeskomödie werden. Ein bisschen Hulk, ein wenig Froschkönig. Hauptsache Liebe!
Eine Frau wird gerufen, weil ihr Mann während eines Vorstellungsgesprächs ausgetickt ist. Behutsam betritt Nadine (Aenne Schwarz) das Kellerabteil, in dem sich Paul verschanzt hat. Ihre heldenhaft zurückgenommene Art lässt an die Zähmung eines wilden Tieres denken, vielleicht sogar eines Monsters. Die Schöne und das Biest, nur eben am Rande von Köln, im Kontext von Kohleindustrie und Maschinenbau. Man sieht: Paul ist ein Rind! Mit Fell und Hörnern, schnaubend. Nadine beruhigt das Tier (gespielt von der Kuh Bella), und schon wird es zum kleinen Jungen (Sammy Schrein).
Wenn Metaphern spazieren gehen
In den Filmen von Michael Fetter Nathansky neigen Metaphern immer wieder mal dazu, sich sehr wörtlich zu nehmen. In seinem Langfilmdebüt „Sag du es mir“ (2019) waren es die dramatisch überstrapazierten Begriffe Tiefgang, Fallhöhe und Erzählgerüst, die er anhand eines Sturzes von einem stählernen Schiffshebewerk auf ihre filmische Tragfähigkeit hin abklopfte. In „Alle die du bist“ gesteht er den liebeskonnotierten Facetten einer Persönlichkeit jeweils eigene Verkörperungen zu. Außer in Gestalt des „eigentlichen“ Ehemanns (Carlo Ljubek) sieht man Paul nicht nur als Rind und Grundschulkind, sondern auch als naiv-netten Twen (Youness Aabbaz) und als weißhaarig-gütige Mutterfigur (Jule Nebel-Linnenbaum).
Wer in diesem Film in erster Linie die Illustration eines Beziehungspsychogramms zwischen Ver- und Entliebung erkennen will, kann diese Verwandlungen durchaus für entbehrlichen Schnickschnack halten. Übersehen wird dabei aber die vielschichtige Verweisfunktion der Verkörperungen, etwa die erst spät ersichtliche Eigenschaft der ersten Mutation. Das Rind, als das man Paul anfangs (und später noch einmal) sieht, ist kein „Raging Bull“. Keine animalische Urgewalt stemmt sich gegen die Mächte der Arbeitsökonomie. Vielmehr steht ein nicht allzu großes Nutztier da, das an seine eigene Ausbeutung gewöhnt ist. Im Zaum gehalten und handzahm gemacht für den ökonomischen Zweck. Später wird sich das Tier brav von seinem neuen Chef wegführen lassen. Trotz seiner Macken ist es durchaus brauchbar.
Wer war der andere einmal
Mit großer poetischer Stringenz erzählt Nathansky davon, wie fluide die Identität eines Menschen ist, wie fest aber Arbeits- und Liebesbezug miteinander verbunden sind, Compliance und Work-Life-Balance hin oder her. „Alle die du bist“ ist mindestens ebenso ein Film über die Liebe zur Arbeit wie über die Arbeit an der Liebe; er erzählt vom Leiden unter dem Damoklesschwert der „Umstrukturierung“, wie er auch von den vielen kleinen Abschieden weiß, die eine langjährige Beziehung bedeutet. Wer war der andere einmal? In wen hat man sich damals verliebt? Ist er (für einen) gestorben oder hat er sich nur verändert?
Oft haftet Rückblenden etwas Sentimentales an. Doch hier passiert das Gegenteil. Indem Nathansky, von dem auch das Drehbuch stammt, ein schmaleres Bildformat wählt, markiert er die Vergangenheit als nicht mehr bruchlos in die Gegenwart integrierbar. In diesem schmalen Format sieht man, wie die junge, alleinerziehende Maschinenbauerin Nadine zu spät an ihrem neuen Arbeitsplatz auftaucht und mit einer anderen Bewerberin verwechselt wird. Der ruppige Dialog mit dem Kollegen, der sie mit falschem Namen anspricht, ist lediglich hörbar; man sieht Paul nicht. Wie Nadine will die unruhig sich auf die Arbeit konzentrierende Kamera von Jan Mayntz nichts von ihm wissen. Auch dann nicht, als er entschuldigend sagt, sie habe bei ihm nun „einmal Verwechseln gut“.
„Du hast’n Loch im Kinn“
Der Film ruht sich nicht auf der schlichten Erkenntnis aus, dass Menschen durch Arbeit deformiert werden. Oder dass die Arbeit und die Identifikation mit ihr nicht gerade die besten Persönlichkeitsanteile hervorzaubern und andere vernachlässigen. „Alle die du bist“ zeigt eher bewertungslos das Verwachsensein von Menschen miteinander wie mit der Arbeit. „Die anderen haben Hobbys, Familie und so’n Scheiß. Ich hab’ nur den Job“, sagt Nadines Kollegin Ajda (Sara Fazilat), als angesichts des Kohleausstiegs von „Umstrukturierungen“ die Rede ist und Nadine als Anführerin der Belegschaft um die Arbeitsplätze kämpft. Doch auch Ajda besteht darauf, von Nadine „gesehen“ zu werden. Einmal gibt sie Nadine provokativ fünf Euro, damit diese von ihrem Suppenteller aufsieht und sie anblickt. Nadine tut es unter Aufbietung all ihrer Kraft und sagt: „Du hast’n Loch im Kinn.“ Fast schon eine Liebeserklärung.
Aenne Schwarz gibt Nadines Erschöpfung eine breite Palette: von der größten abgetrotzten Souveränität mit tiefer, fester Stimme bis zum flackernden Rand des Psychopathologischen. Und Carlo Ljubek verleiht Paul auch jenseits der filmischen Verwandlungen den schillernden Drive eines hartnäckig Liebenden, der sich an seinen Späßen und Einfällen festhält und gelernt hat, mit seinen Panikattacken wie mit einem schlechten Chef zu leben. Während andere Beziehungsfilme mit Krankheitsthema die Rollen von helfendem und hilfsbedürftigem Part klar verteilen, wird in „Alle die du bist“ immer unklarer, wer hier eigentlich wem hilft, wer oder was ist krank?
Wie sehr diese Unauflösbarkeit Thema des Films ist, wird auch in den Anstrengungen derer ersichtlich, die die Sphären des funktionierenden Privat- und Erwerbslebens säuberlich trennen wollen. In einer in warmes Licht getauchten Rückblende, in der Nadine Paul ins Jobcenter begleitet, beide mit einem giggeligen Grinsen im Gesicht, so als befänden sie sich auf dem Standes- und nicht dem Arbeitsamt, versucht die von der Kamera ausgesparte Angestellte, Liebes- und Arbeitssphären strikt zu separieren. In Nadine müsse man sich ja wohl verlieben, sagt Paul zu der Jobvermittlerin, die sich auf die Einschätzung von Menschen doch verstehen müsse. Die aber entgegnet: nur für die Arbeit, nicht fürs Verlieben.
Die Erkenntnis eines Menschen
Mit seinen punktgenauen Dialogen und visuellen Auslassungen verschafft Michael Fetter Nathansky dem Leitmotiv des Erkennens eines Menschen viel Platz, ohne es breitzutreten. Durch seine verdichtete, aber nie künstlich wirkende Filmsprache, durch eine bis in die Kinderrollen überzeugende Besetzung und durch Bilder, die sich für die schroffe Architektur von fraglich gewordenen Industrieanlagen ebenso interessieren wie für die zerbrechlichen Antlitze derer, die sich darin behaupten wollen und ihre Seelen dennoch kaum vor dem Raubbau schützen können, ist dem Regisseur ein großes, kleines Porträt der Gegenwart gelungen.