Der Raum ist dunkel, fast schwarz. Man erkennt den weißhaarigen Mann am Flügel nur an seiner Silhouette. Auch er ist schwarz gekleidet, sitzt mit dem Rücken zur Kamera und streichelt für die Zuschauer:innen nicht sichtbar mit seinen Fingern die im harten Kontrast fast aufblitzenden weißen Tasten des Manuals. „Lack of Love“ ist Games-Musik, die Ryūichi Sakamoto 2001 für das gleichnamige Computerspiel gemacht hat. Es war kein Erfolg. Vielleicht lag es an der pessimistischen Grundhaltung. Sakamotos Musik sollte eine „allumfassende Stimmung von Einsamkeit und Traurigkeit evozieren“, so die Liner Notes zum Soundtrack. Schlecht für ein Computerspiel. Wunderbar für den Beginn des letzten Konzerts eines Sterbenden.
Die Kamera nähert sich ganz behutsam dem leicht gebeugt spielenden Komponisten, lugt schließlich über dessen Schulter und gibt für einen Moment die Sicht frei auf die Tastatur, seine nur in Anflügen zitterig über die Tasten huschenden Hände und die aufgelegten Klavierauszugs-Noten. Es ist eine Bearbeitung des Synthesizer-Scores für Piano. Alle 19 folgenden Stücke sind es ebenso. Manche so noch nie gehört. Es ist eine letzte Verbeugung des 71-jährigen Komponisten an sein 46 Jahre währendes Lebenswerk.
Allein mit Sakamoto und seiner Musik
Zwanzig Stücke in 105 Minuten geben nur einen kleinen Ausschnitt in das Werk des „Oscar“-gekrönten Japaners („Der letzte Kaiser“). Er hat sie für den Konzertfilm „Opus“ eigens ausgesucht und arrangiert. Sie umspannen Spielemusik ebenso wie Tracks aus Pop und Konzertalben und natürlich seine Filmmusiken, die mehr als die Hälfte des Konzerts ausmachen. Ein Konzert ohne Zuschauer, ohne Auditorium, ohne Blumenbuketts, ohne Beiwerk. Es findet im Tonstudio 509 des NHK Broadcast Centers in Tokio statt. Sakamoto ist davon überzeugt, dass der hohe Saal die beste Akustik in Japan habe. In ihm steht nur der Yamaha-Flügel, Mikrofonständer und Kabeltrommeln. Technik, die die Klangwellen aufsaugen, die vom Resonanzkörper Flügel und von den ausgeklügelt gestalteten Wandverkleidungen reflektiert werden.
Regisseur Neo Sora hat nur drei 4K-Kameras positioniert, die die Arbeit des Vortragenden völlig unaufgeregt beobachten. Sie sind allein mit Sakamoto und seiner Musik und mit den Zuschauern. Ein höchst intimer, bewegender Moment; völlig angemessen für das Anliegen: Ein letztes Mal wird man den Künstler, der unheilbar an Krebs erkrankte, bei seiner liebsten Arbeit begleiten können – beim Musizieren. Die Aufnahmen entstanden vom 8. bis 15. September 2022. Ein halbes Jahr später ist Ryūichi Sakamoto dem Krebs erlegen.
Ein Lamento, in dem sich der Künstler verflüchtigt
Die ersten 25 Minuten sind verhalten. Das Tempo und die Melodieläufe introvertiert und unaufgeregt. Es scheint ein einziges großes Lamento zu werden, in dem sich der Künstler verflüchtigt. Doch erfassen die Kameras einmal fast beiläufig Sakamotos Gesicht zusammen mit dem spärlichen Licht einer Leuchte, wie man sie sonst nur von altmodischen Büroschreibtischen kennt, dann offenbart sich ein gefasster, aber eigentümlich gelassener, fast entspannter Mensch, der völlig bei sich und seiner Musik ist. Leiden ist nicht sein Ding.
„Aubade 2020“ ist eine Petitesse, die Sakamoto für einen TV-Spot für einen Cider geschrieben hat. Erstaunlich, aber erstaunlich schön, dass er für dieses Konzert auf eine solche Idee kommt. „Ichimai – Small Happiness“ ist fast schon ein Euphemismus, wenn man bedenkt, dass dieses Stück für einen Samurai geschrieben wurde, der sich am Ende von Takeshi Miikes „Hara-Kiri – Tod eines Samurai“ selbst richtet. Aber diese wunderbare kleine Etüde macht tatsächlich warm ums Herz. Die Kamera zieht hier fast zur Totale auf, sodass man dieses erstaunlich große und hohe Studio dank der angestrahlten weißen Lamellenwände in seinen Dimensionen erfassen kann. Das Piano und sein Spieler erscheinen hierbei – wie häufig – im Gegenlicht. Neo Sora und sein Kameramann Bill Kirstein spielen stark mit Kontrasten. Die Schwarz-weiß-Kamera ist fast überirdisch scharf und ergeht sich immer nur dann in Grautönen, wenn man Hände und Gesicht in Anschnitten sieht. Die Filmemacher sind darauf bedacht, nie zu lang auf dem Künstler zu verweilen. Es sind Details und Fragmente und Nebensächlichkeiten im Raum, die die Filmemacher interessieren, ja manchmal auch nur der Schatten, den Sakamoto auf den Studioboden wirft.
Ein abendfüllendes Spiel aus Licht, Schatten und Musik
Es ist spannend zuzuschauen und zuzuhören, was sich Sakamoto sonst noch alles ausgedacht hat für sein letztes, wohlkomponiertes und -konzipiertes Konzert. „Opus“ ist ein Film, der wie fürs dunkle Kino gemacht ist. Ein abendfüllendes Spiel aus Licht und Schatten; begleitet von Musik aus „Babel“, „Wuthering Heights“, „Himmel über der Wüste“ oder „Der letzte Kaiser“. Wenn es dann am Schluss mit dem berühmten „Merry Christmas Mr. Lawrence“ noch einmal kurz emphatisch wird, erkennt man, welche mitreißende Kraft die Musik von Ryūichi Sakamoto immer noch hat. Immerhin ist das Stück von 1983 sein bekanntestes und einfach nur zeitlos. Das Konzert endet nach einer Schwarzblende dann aber mit „Opus Ending“, einer fünfminütigen Abspannmusik im hell erleuchteten Saal mit der Einblendung der 20 gespielten Stücke und den End-Credits. Rechts unten in der Ecke der Leinwand ist noch Platz für Sakamoto, der in Seitenansicht scheinbar ganz verstohlen die Namen der Beteiligten begleitet, bis sein Flügel – wie von Geisterhand – allein weiterspielt, ohne Sakamoto. Der ist nun im Himmel und bleibt ewig!