Die letzte Geste ist besonders elegant. Zum Schluss streicht sich der Film einfach selbst aus. Die soeben liebevoll ausgebreitete monströse Fiktion einer weltumspannenden Nazi-Herrschaft samt knarzig wummernden Hitler-Beats schnurrt vermittels eines rekursiven Loops wieder in sich zusammen, reduziert sich auf zwei Zufallsgesichter in einer anonymen Menschenmenge; zwei Frauengesichter, die den Sieg der Alliierten über das Dritte Reich feiern.
Das Genre, dessen sich „Lola“, bedient, nennt sich „Alternate History“: eine Spielart des Science-Fiction-Films, die ihre spekulative Alternative zur Gegenwart nicht in die Zukunft, sondern in die Vergangenheit projiziert. Die Weltgeschichte ist an irgendeinem Punkt anders, das heißt im Allgemeinen: falsch abgebogen, und jetzt haben wir den Salat. Besonders beliebt ist dabei der Geschichtsholzweg: Was, wenn Deutschland den Zweiten Weltkrieg gewonnen hätte?
Wenn die Geschichte zu viel über sich selbst weiß
Der besondere Kniff von „Lola“ besteht darin, dass die Geschichte die falsche Abzweigung vor allem deshalb nimmt, weil sie zu viel über sich selbst weiß, weil sie gewissermaßen in sich selbst eintritt. Die titelgebende Lola ist eine Art erweitertes Proto-Fernsehgerät, das die Fernseh-, Radio- und Funkwellen der Zukunft aufzuschnappen in der Lage ist. Erfunden haben es die Schwestern Thom(asina) und Martha Halbury, die in der englischen Provinz ein einigermaßen sorgenfreies Bohème-Leben führen, mit Badewannenschaum auf der Nase und der Zigarette im Mundwinkel. Proto-Hipster sozusagen, denen der Wunderapparat gerade recht kommt, da sie mit seiner Hilfe ihrer popkulturellen Zeit buchstäblich vorauseilen können. Wo im echten Leben des Jahres 1941 der Jazz gerade erst dabei ist, den Sprung über den Atlantik zu vollenden, hören Thom und Martha bereits Bob Dylan und David Bowie.
Nur eben: 1941. Das bedeutet Weltkrieg und jede Menge deutsche Luftangriffe auf England. Die Idee liegt nahe, den deutschen Kriegsfunk anzapfen und die Informationen an die heimische Militärführung weiterzugeben. Das funktioniert zunächst blendend. Die Nazis stecken empfindliche Niederlagen ein. Bald sind die beiden anonymen Wahrsagerinnen als „Angel of Portobello“ landesweit bekannt. Dass der Kontakt zu den Militärs durch einen hübschen Schnurrbartträger geknüpft wird, in den sich Martha schnurstracks verliebt, ist ein schöner Bonus. Zu mehr als einem solchen wird der Schnurbartträger aber auch später nicht; der Film bleibt durchweg die Geschichte zweier Schwestern.
David Bowie ist verschwunden
Wenig überraschend geht die Sache bald schief. Das erste Warnzeichen: David Bowie ist verschwunden. Die Zukunft hat sich verändert, weil in der Gegenwart etwas schiefgelaufen ist. Der Verdacht liegt nahe und bestätigt sich bald: Lola war’s. Beziehungsweise die Entscheidung der Schwestern, die Maschine nicht nur zur Verfeinerung des eigenen Musikgeschmacks, sondern auch zur Rettung der Welt zu nutzen. Thom, die Visionärin und mit ihrem queer angehauchten Tomboy-Look auch die lebensweltliche Avantgarde der beiden („Ich und meine Klitoris benötigen keine Gesellschaft“), setzt sich über alle Vorsichtsmaßnahmen hinweg und glaubt tatsächlich bald, die Geschichte wäre Wachs in ihren Händen. Hat diese fesche Bubikopf-Amazone nicht von Anfang an etwas Herrinnen-Menschenartiges an sich? Man würde sie zumindest eher in einem Riefenstahl-Film als in einer Hollywood-Screwball-Komödie besetzen. Die naivere, anschmiegsame Martha wiederum ist zu sehr mit ihrem Schnurrbart beschäftigt. Bis sie bemerkt, dass etwas schiefläuft, stehen die Nazis schon vor London.
Eine metafiktionale Charade
Darum geht es natürlich auch: um den wohligen Schauder, der einen überkommt, wenn man die Hakenkreuzflagge über England flattern sieht. Sogar in zeitgenössischer Schwarz-weiß-Analog-Optik. „Lola“ gibt sich selbst als historisches Found-Footage-Material aus. Der Großteil des Films ist im grobkörnigen Home-Movie-Look auf 16mm gedreht, dazwischen montiert sind fiktionale Newsreels, die auf 35mm-Material aufgenommen wurden. Die Materialität des Zelluloid-Bilds ist durchweg Teil des Spiels, das Regisseur Andrew Legge mit dem Publikum spielt. Die Regeln dieser metafiktionalen Scharade nimmt der Film nie ernster als nötig, wie auch seine „Alternate History“-Vision stets intellektuelle Fingerübung bleibt und nie auf ethische Fragestellungen in der „echten Welt“ umleitet. „Lola“ will nie mehr sein als ein filigranes Stück Außenseiter-Kunsthandwerk. Zu sich selbst kommt der Film nicht in der Warnung vor dem faschistischen Takeover, sondern in der liebevollen Imagination eines stechschritt-groovenden NS-Pops.