Der Blutzoll, den die zwölf Distrikte von Panem jedes Jahr zahlen müssen, ist hoch: Ein Mädchen und ein Junge im Alter zwischen 12 und 18 Jahren. Zurück bleiben verzweifelnde Familien und Freunde. Seit dem brutal niedergeschlagenen Aufstand presst die dekadente Hauptstadt namens Capitol den Distrikten neben Holz, Getreide, Vieh und Kohle noch einen weiteren Rohstoff ab: Kinder. Bei den sogenannten „Hungerspielen“ müssen sich die 24 „Tribute“ vor den Augen der Zuschauer in einer mit tödlichen Fallen und Waffen gespickten Arena gegenseitig so lange abschlachten, bis nur noch einer übrig ist. Der Firnis der Zivilisation ist dünn, wenn es um die eigene Haut geht – blutig illustriert an dem zum Tode geweihten Kindern, die ihre Zukunft noch vor sich gehabt hätten.
Schnee landet immer oben
Wie grausam muss eine Gesellschaft sein oder wie traumatisiert durch ihre Kriegsvergangenheit, dass vermeintlich nur in „Brot und Spiele“-Manier der Friede gewahrt bleiben kann? Und wie grausam muss der Mann sein, der als Staatspräsident diesem Gemetzel jahrzehntelang vorstand und im finalen „Tribute von Panem“-Teil (2015) ausgerechnet die nach Schutz suchenden Kinder und Frauen vor seinem Palast aus der Luft bombardieren ließ? Dieses Mysterium in Menschengestalt heißt Coriolanus Snow. Seine Genese wie auch die der ihn prägenden Gesellschaft zeichnet „Die Tribute von Panem – The Ballad of Songbirds and Snakes“ als Prequel so ambivalent nach, wie es die Tiere des Titels versprechen.
„Schnee landet immer oben“, lautet die Familienweisheit der Snows, die aber mitnichten immer an der Spitze mitgemischt haben. Die Geschichte beginnt 64 Jahre vor dem Erscheinen von Katniss Everdeen, der Protagonistin der ersten vier „Panem“-Teile. In den „dunklen Tagen“ unmittelbar nach der Niederschlagung des Aufstands der Distrikte beobachtet der kleine Snow mit seiner Cousine Tigris, was Menschen in hungriger Verzweiflung alles zu tun bereit sind. Zehn Jahre später leiden auch die Snows immer noch Hunger. Es droht die Räumung ihrer Wohnung.
In der auf Äußerlichkeiten fixierten Nachkriegsgesellschaft des Capitols hält man sich mehr mit Schein als mit Sein über Wasser. So wird auch das hoch dotierte Plinth-Stipendium, auf das der begabte Snow hofft, umgewandelt: Die Studienprämie kann fortan nicht mehr durch gute Noten, sondern muss durch Verdienste bei der neu eingerichteten Mentorenstelle für die Tribute der Hungerspiele errungen werden. Sie wird unter Aufsicht von Dekan Highbottom (Peter Dinklage) vergeben, von dem sich Snow gegängelt und gehasst fühlt.
Die Mentoren sollen die ihnen anvertrauten Kinder zu Spektakeln machen, damit die Menschen bei den live im Fernsehen übertragenen Hungerspielen wieder einschalten. Denn das Gemetzel allein bringt keine Quote. Herz und PR sind vielmehr Trumpf. Snow, dem als Schützling die charismatische Schönheit Lucy Gray Baird aus Distrikt 12 zugeteilt wird, erkennt, dass die Menschen mitfiebern wollen. Baird, eine Country-Folk-Sängerin im bunten Kleid ihrer verstorbenen Mutter, ist der Farbsprengsel im Einheitsgrau der Arbeitskittel und Militäruniformen.
Wie man den moralischen Kompass verliert
Mit den vermeintlich besten Absichten, aber einer gehörigen Portion Opportunismus variiert Snow, selbst Sohn eines gefallenen Rebellen, das ungnädige Spiel mit den gleichsam unterprivilegierten Jugendlichen – obwohl oder gerade weil er seine Tributin so schnell ins Herz schließt. Snows Vorschläge an die diabolische Spielmacherin Volumnia Gaul (Viola Davis) helfen seinem Schützling beim Überleben. Aber sie manifestieren auch ein System, das alljährlich den Tod vieler anderer einfordert.
Wozu die Hungerspiele dienen, wird Snow von Gaul mehrmals gefragt. Als abschreckende Zeremonie der Bestrafung? Als warnendes Beispiel für die Capitol-Bewohner, wie unzivilisiert die Abkömmlinge der Distrikte sind? Unter Einsatz seines eigenen Lebens verschlägt es Snow gleich zweimal in diese Arena. Die Antwort, die er am Ende seiner Reise findet, ist viel profaner, und gnadenlos deterministisch, was sein eigenes Tun und Streben betrifft. Sie ist das pochende Herzstück dieser Ballade: Wie verlieren Menschen und Gesellschaften ihren moralischen Kompass? Wie können sie sich selbst einreden, für das Gute und größere Ganze einzutreten, wenn es doch nur ihren eigenen Interessen oder der Kapitulation vor der eigenen Veranlagung dient?
Man könne sich entscheiden, gut oder schlecht zu sein, sagt Lucy Gray Baird, als sie einmal nicht vom Tod bedroht wird. Baird und Snow sind Charaktere aus der dystopischen Romanreihe von Suzanne Collins, die als Vollwaisen in einer zum Zerreißen gespannten Gesellschaft zu überleben versuchen. Väterliche Vorbildfiguren existieren nicht mehr; deren Erbe wird vielmehr bekämpft, etwa auch von Sejanus, dem Sohn des reichen Waffenherstellers Plinth, der das brutale System der Hungerspiele von innen heraus zu unterhöhlen versucht.
Ein würdig-wichtiges Prequel
Regisseur Francis Lawrence arbeitet die Ambiguität von gesellschaftlicher Stabilität und individuellem Machtstreben so hervorragend heraus, dass sich die Charaktere der Protagonisten jenseits einfacher Gut-Böse-Schemata entwickeln können, was dem „Tribute“-Kosmos ein würdig-wichtiges Prequel beschert. Das düstere Coming-of-Age wird geschickt mit den Attributen verknüpft, die den Tyrannen später auszeichnen: Intrige, Unterwerfung, Verrat und Macht.
Allmählich erstarrt die blondgelockte, engelsgleich-androgyne Fassade des mit Tom Blyth trefflich besetzten Snow, während sich Wahnsinn und Hass in seinen Blick eingraben. Flankiert wird Blyth von vielschichtigen Nebenfiguren wie dem Fernsehmoderator Lucky Flickerman (Jason Schwartzman) und der Figur von Lucy Gray Baird (Rachel Zegler), die mit ihrem Gesang und ihrer rebellischen, naturverbundenen Art nicht nur an Katniss Everdeen, sondern als Angehörige des singenden Volks der „Covey“ auch an die Verfolgung der Sinti und Roma erinnert.
Nicht von ungefähr gleicht die Behandlung der Tribute in Zeiten, in denen die 10. Hungerspiele noch in den Kinderschuhen steckten, den Vernichtungsstrukturen des Dritten Reichs. Die Tribute reisen (noch nicht) im Luxuszug, sondern in dreckigen Güterwaggons in die Hauptstadt, um in ein Zoogehege regelrecht „ausgeschüttet“, statt für die Öffentlichkeit drapiert zu werden. Und in den Distrikten werden die Einwohner für Lappalien am nächsten Baum aufgehängt. Sie schuften sich zu Tode und fristen ein karges Dasein, während sich das Capitol in einem faschistoid anmutenden Unterdrückungsapparat absichert.
Utopie der Freiheit
Diese Endzeitstimmung wird in einer bedrückenden Ästhetik aus modifizierter alter Technik im 1950er-Jahre-Look, dem Monumental-Schick eines digital nachbearbeiteten Ostberlins und einem technisch kaltem High-End-Science-Fiction-Setting in Gauls Labor getaucht. Zudem weitet der Film mit einem kontrastierenden dritten Akt das enge narrative Korsett des Arena-Horrors aus, indem er eine Utopie der Freiheit und des einfachen Glücks entwickelt – ein lichtdurchfluteter Höhenflug des „Was wäre wenn“, dem nur noch ein umso tieferer Fall folgen kann.
Die „Ballade von Singvögeln und Schlangen“ stimmt ein Lied voller Schmerz und Wehmut als Abgesang auf die reale Menschheit an, deren Krisen sich seit dem Start der Roman-Verfilmungen im Jahr 2012 vervielfältigt haben. Das Prequel ist letztlich auch eine Studie darüber, wie gute Intentionen in Hass und Verdammnis münden können. Wie singt doch Lucy Gray Baird über den „Hanging Tree“, den Henkersbaum, quasi Vorbotin von Katniss Everdeen? „Are you, are you coming to the tree? Where I told you to run so we’d both be free.“