Coming-of-Age-Film | Belgien/Frankreich 2019 | 98 Minuten

Regie: Fabrice Du Welz

Ein Zwölfjähriger verliebt sich Hals über Kopf in eine Fünfzehnjährige, die wegen paranoider Schizophrenie in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wird. Der scheue Junge befreit das sprunghafte Mädchen und flieht mit ihm in die umgebenden Wälder der Ardennen. Obwohl ihm ihre Labilität und wachsende Aggressivität bewusst sind, hält er an dieser radikalen Romanze fest. Das Zwei-Personen-Road-Movie ist als schillerndes Psychogramm zweier Außenseiter angelegt, die unterschiedliche Erwartungen an eine vermeintliche große Liebe hegen. Die zuweilen ins Surreale driftende, atmosphärisch dichte Inszenierung eines irrationalen Trips ins Ungewisse wird maßgeblich getragen von den herausragenden Jungdarstellern. - Ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
ADORATION
Produktionsland
Belgien/Frankreich
Produktionsjahr
2019
Produktionsfirma
Panique/The Jokers Films/Savage Film
Regie
Fabrice Du Welz
Buch
Fabrice Du Welz · Romain Protat · Vincent Tavier
Kamera
Manuel Dacosse
Musik
Vincent Cahay
Schnitt
Anne-Laure Guégan
Darsteller
Thomas Gioria (Paul) · Fantine Harduin (Gloria) · Benoît Poelvoorde (Hinkel) · Anaël Snoek (Simone) · Gwendolyn Gourvenec (Dr. Loisel)
Länge
98 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Coming-of-Age-Film | Drama | Liebesfilm
Externe Links
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Faszinierendes Psychogramm über einen zwölfjährigen Jungen, der sich in eine 15-jährige Schizophrenie-Kranke verliebt und sie für eine gemeinsame Flucht aus einer psychiatrischen Klinik befreit.

Diskussion

Zwei Mal kommen im sechsten langen Spielfilm des belgischen Regisseurs Fabrice Du Welz Kraniche vor, und zwei Mal sind es symbolträchtige Situationen. Das erste Mal zeigt der alte Witwer Hinkel (Benoît Poelvoorde), der seit dem Tod seiner Frau vor 15 Jahren auf einem verlassenen Campingplatz haust, dem zwölfjährigen Paul (Thomas Gioria) eine idyllische Seenlandschaft mit zahlreichen der langbeinigen Vögel und erklärt, dass Kraniche als Paare bis zu ihrem Lebensende zusammenleben; er, der jeden Tag an diesen Ort kommt, schreit nun laut nach seiner verstorbenen Frau Jeanne. Am Schluss fahren Paul und seine große Liebe, die 15-jährige Gloria (Fantine Harduin), auf einem Motorboot einen einsamen Fluss entlang. Als er zum Himmel aufschaut, ziehen zahlreiche Kraniche in V-Formation vorbei. Der Junge nimmt das Mädchen in den Arm, sie lächelt.

Trotz dieser hochromantischen Szene mündet „Adoration“ in einen offenen Schluss, denn es stehen große Fragezeichen über dieser wilden Romanze mit Ewigkeitsanspruch. Hochromantisch und sehr poetisch hat der Film auch schon begonnen. Der Vorspann setzt mit einem Zitat der Krimiautoren Pierre Boileau und Thomas Narcejac ein fantasievolles Signal: „Es liegt an jedem einzelnen von uns, die Monster und Feen zu erwecken.“ Der schüchterne Paul ist im Wald um die psychiatrische Anstalt in den Ardennen unterwegs, in der seine alleinerziehende Mutter Simone (Anaël Snoek) arbeitet, und findet am Boden einen geschwächten Buchfinken. Er versorgt das Vögelchen liebevoll, nennt es Robbie und führt mit ihm einen fiktiven Dialog.

Eine jugendliche „Amour fou“

Kurz darauf trifft eine neue Patientin in der Anstalt ein. Das Mädchen im roten Kleid ist Gloria, die an paranoider Schizophrenie erkrankt ist. Sie läuft vor zwei Pflegekräften weg, rempelt Paul an, der so hinfällt, dass sie auf ihm landet. Ein Blick in ihre blauen Augen, und es ist um den naiven Jüngling geschehen. Eigentlich darf er mit seiner Mutter auf dem Gelände der Klinik nur unter der Bedingung wohnen, niemals mit Patienten zu sprechen. Doch im Fall von Gloria bricht Paul diese Regel. Beim gemeinsamen Spaziergang kommen sie sich rasch näher. Weil das temperamentvolle Mädchen unbedingt seine Freiheit zurückhaben will, verhilft Paul ihm zur Flucht. Als sich ihnen die Ärztin Dr. Loisel (Gwendolyn Gourvenec) in den Weg stellt, stößt Gloria sie eine Treppe hinunter. Gemeinsam laufen sie in die Nacht hinaus.

Zwischen den beiden Jugendlichen erblüht eine große, eine verrückte, eine absolute Liebe. Doch das Gewicht der Emotionen ist ungleich verteilt. Während Paul sich wie ein Blinder in diese Liebschaft fallen lässt, versteht es Gloria exzellent, ihn für ihre Interessen zu manipulieren. Dabei präsentiert uns Fabrice Du Welz zwei Menschen im seelischen Ausnahmezustand. Paul ist zum ersten Mal verliebt und wird von seinen romantischen Gefühlen überwältigt. Bei Gloria wechseln sehr schnell die Gemütszustände, sie fühlt sich sichtlich geschmeichelt von seiner Anbetung (siehe Filmtitel), wird jedoch immer wieder von psychotischen Schüben überrollt.

Dann brechen unvermittelt Ängste auf, und sie kreiert zum Teil absurde Verschwörungstheorien. Etwa wenn sie von Paul fordert, eine Henne zu töten, von der sie glaubt, dass ihr böser Onkel diese geschickt habe, um sie umzubringen. Die krankhaften Anfälle können so intensiv sein, dass Gloria Menschenleben gefährdet.

Ein irrationaler Trip ins Ungewisse

Der belgische Regisseur Fabrice Du Welz, der in seinen bisherigen Horror-Dramen, Thrillern und Action-Filmen schon mehrfach extreme Beziehungen ausgeleuchtet hat, konzentriert sich auch hier auf die Schilderung einer spannungsreichen „Amour fou“ mit einem ständigen emotionalen Auf und Ab. Der Kameramann Manuel Dacosse bleibt oft nah dran an den Protagonisten, komponiert aber auch gern Landschaftsaufnahmen mit Bedrohungspotenzial. Ausgedehnte Szenen in Wäldern und an Flüssen werden immer wieder metaphorisch aufgeladen, bergen diese doch häufig latente Gefahren. Die wichtigen Stationen des irrationalen Trips ins Ungewisse werden vom Komponisten Vincent Cahay mit viel Fingerspitzengefühl musikalisch untermalt, mal mit Streichern, mal mit sanftem Chorgesang, mal mit Klavier.

Geschickt streut der Regisseur gelegentlich Andeutungen und Warnsignale in die Bildfolgen, etwa wenn Simone frühzeitig Paul vor Gloria warnt, die „gefährlich“ sei und „in etwas Schlimmes verwickelt“. Oder wenn Paul seiner Fluchtgefährtin aus einem Buch vorliest und beim Wort „unaufhaltsam“ hängen bleibt; Gloria erklärt ihm das unbekannte Wort: „Etwas, das geschehen muss. Wie etwas Tödliches.“ Zudem verwischt Du Welz hin und wieder die Grenzen zwischen Realität und Traum und lässt sein Publikum gerne im Ungewissen: Sind Glorias Eltern wirklich bei einem Autounfall umgekommen, wie sie behauptet? Und will ihr angeblich böser Onkel sie um ihr Erbe bringen? Oder sind das Wahnvorstellungen einer Geisteskranken?

Getragen wird das intensive Liebes- und Coming-of-Age-Drama vor allem von den beiden stark aufspielenden Jungdarstellern. Thomas Gioria, der schon 2017 in Xavier Legrands Sorgerechtsdrama „Nach dem Urteil“ sein Talent zeigen konnte, gelingt es hier, die Spannung zwischen natürlicher Naivität und radikaler Hartnäckigkeit in Pauls Fühlen und Denken auf die Leinwand zu bringen. An seiner Seite läuft Fantine Harduin, die ebenfalls 2017 in Michael Hanekes „Happy End“ auf sich aufmerksam machte, zu Hochform auf, wenn sie das Mysterium ihrer ebenso anmutigen wie beunruhigenden Figur zur Anschauung bringt.

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