Es ist ein Traum, der Shenxius Wunsch erfüllt. Ein magisches Wesen, Hyjinx genannt, erfüllt ihn. Wie ein glibberiger Klecks mit Augen sieht es dieses formwandelnde Etwas aus, dass Shenxui aus einer Erzählung ihrer Mutter kennt, welche sie wieder und wieder auf ihrem Handy abspielt. Denn Shenxius leibliche Mutter hat sie und ihren Vater verlassen. Ihre neue Familie, zu der eine freundliche Stiefmutter, der leibliche Vater und ein jüngerer Bruder gehören, kümmert sich allzu selten um das kleine Mädchen. Der Vater hat nur Augen für den Sohn, die Stiefmutter gibt sich Mühe, doch ist Shenxiu wieder und wieder allein. So auch auf der Kreuzfahrt, die sie allein mit ihren Erinnerungen an die leibliche Mutter in der Kabine verbringt. Bis sie sich an die Erzählung und das Hyjinx erinnert, das man nur auf dem offenen Meer treffen kann. Als ein Sturm aufzieht, verlässt Shenxiu ihre Kabine und begegnet tatsächlich dem Hyjinx, das das Mädchen in die Tiefen des Ozeans und damit auch in die Tiefen des Traums zieht, den dieser Film träumt.
Wie auf die Leinwand gepinselt
Es braucht einen Traum, um die Welt von Deep Sea“ kreieren zu können, wie sie der Filmemacher Tian Xiaopeng, der Pionier und Star des chinesischen 3D-Animationskinos, mit digitalen Farben auf die Leinwand pinselt. Eine Welt, die man sich am besten als Strudel vorstellen kann, der alles, was das Unterbewusstsein zu erdenken vermag, Kühe, Wale, Geldnoten, Fische, Farben, Schneeflocken, Seeanemonen, Muscheln oder Quallen, mit sich reißt.
Das Hyjinx führt Shenxiu durch diesen Strudel in ein mythische Tiefsee-Restaurant. Der Eigner und Chefkoch dieses Restaurants, das wie alles im Tiefseetraum ein Abbild der allzu tristen Familienkreuzfahrt-Realität ist, fängt das Hyjinx. Das Fabelwesen soll seiner experimentellen, aber wenig schmackhaften Küche als bewusstseinserweiternde Zutat wieder zum Erfolg verhelfen. Zumindest für eine Weile, lautet der Deal, den der gierige, aber irgendwie auch herzliche Küchenchef mit dem träumenden Mädchen macht.
Shenxiu ihrerseits findet sich mehr und mehr im verflüssigten Chaos ihres Traums zurecht. Nicht allein die Kamera gleitet hier, von unsichtbaren Strömungen getragen, durch das Farbmeer; auch die welsartigen Restaurantgäste, die, wie ihre menschlichen Counterparts auf dem Kreuzfahrtschiff dick und vulgär wirken, wabbeln durch die Gegend. Um sie herum wuseln kleine Otter (die Tellerwäscher des Restaurants); Suppen schwappen über, Teller fliegen durch die Gegend und zwischendrin flitzt der überambitionierte Chefkoch. Er windet sich durch das Chaos, vertröstet die enttäuschten Gäste, erfindet neue Superlative für seine Gerichte, stolpert, fällt, schlittert und schafft es dabei immer wieder, das eigene Gesicht, das von den Fliehkräften gezerrt wird wie Gelee in einer Zentrifuge, zu einem Lächeln zu zwingen.
Ein rotes Phantom will alles verschlingen
Tatsächlich braucht die Traumwelt nicht nur sein, sondern auch Shenxius Lächeln, um bestehen zu können. Ihre Depression, eben jener Zustand, den in der wirklichen Welt niemand ernst nehmen will, manifestiert sich als alles verschlingendes rotes Phantom. Immer dann, wenn die Protagonistin ihr Lächeln verliert und sich an die wirkliche Welt, die Mutter, die sie verlassen hat, und die Einsamkeit inmitten ihrer Familie erinnert, droht es das Restaurant und die fiebrig-exaltierte Traumwelt zu verschlingen.
Nichts in diesem bunt sprudelnden Film kennt eine Stasis oder ein Innehalten. Jeder Frame ist ein Wimmelbild, in dem sich jemand bewegt, etwas bewegt wird oder die Kamera sich selbst in Bewegung setzt. Ein Fluss an fluoreszierenden Farben und Formen ergießt sich in diesem Traum, als hätte jemand einen Farbeimer in ihn hineingekippt, der nun in alle Richtungen gezogen und gequirlt wird. Ein Spektakel das sich die Bezeichnung „atemberaubend“ mehr als verdient. So sehr, dass man sich nach einer gewissen Weile geradezu körperlich nach einer Pause zum Luftholen sehnt. Doch diese Pause gewährt der Film nie. Denn auch das gehört zum Träumen. Es besitzt keinen Ankerpunkt, bleibt immer flüchtig genug, um sich nicht einfangen, greifen oder in der Realität verankern zu lassen.
Der Ankerpunkt in der Realität
So ist das eigentlich Spektakuläre nicht das Dauerfeuer des Unterbewusstseins, sondern der Moment, in dem Shenxiu erwacht und der Film das Bewusstsein wiedererlangt. Die Farbpracht schwindet, ihre Schönheit und Dynamik rückt in unerreichbare Ferne. Es gibt keine Rückkehr zum gerade geträumten Traum. So sehr man Körper und Geist wieder ins Unterbewusstsein zwingen will: Es bleibt allein die vom Traum vertriebene Welt zurück. Es ist ein brutaler Kontrast, mit dem „Deep Sea“ die elastischen Formen und Farben zerrinnen lässt, aber eben auch der Ankerpunkt, den der Film braucht, um etwas Wahrhaftes zu finden – im Tristen des Erwachens.