Wie man bei Wikipedia lesen kann, wurde Anselm Kiefer kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs in Donaueschingen geboren. Er studierte in Freiburg Kunst. Malerei, Skulptur, Fotografie. 1980 vertrat er neben Georg Baselitz die Bundesrepublik Deutschland auf der Biennale in Venedig. Und doch: „Seine Karriere begann mit einem Skandal.“
Biografien sind praktisch, aber so ziemlich das Unwichtigste, wenn es um Bildende Künstler geht. Daten und Fakten haben auch Wim Wenders nicht an Anselm Kiefer interessiert. Ganz kommt allerdings auch der Dokumentarfilm nicht um biografische Daten und Bezüge herum. Auch Wenders zeigt den Künstler in seinen „wilden Jahren“, in denen er sich im (Schwarz-weiß)-Fernsehen mit der deutschen Öffentlichkeit anlegte, die den Weltkrieg weder verdaut noch reflektiert hatte. Den „Skandal“, der in dem Wiki-Eintrag diffus als Karrierebeginn verortet wird, hält auch Wenders im Film fest. Es sind die „Performance“-Fotos, auf denen Kiefer mit Hitlergruß vor Gebäuden der Zeitgeschichte in mehreren europäischen Ländern posiert. Gemocht oder geschätzt wurde Kiefer in Deutschland lange Zeit nicht. Wobei Agitation und Aufregung für die Karriere eines Künstlers wahrscheinlich nicht ganz unwichtig sind.
Eine freundschaftliche Nähe
„Anselm“ nennt Wenders seinen Dokumentarfilm. Diese freundschaftlich anmutende Nähe ist Programm. Beide kennen sich schon lange, sind fasziniert voneinander und wollten immer mal etwas „zusammen machen“. Doch es hat Jahrzehnte gedauert, bis zur Pandemie. Das dabei entstandene Werk „Anselm“ ist ein höchst persönlicher, ja intimer Film, was man angesichts der Kunst des in Frankreich lebenden deutsch-österreichischen Weltbürgers kaum vermutet hätte.
Es wird erstaunlich viel geflüstert auf der Tonspur, die von der suggestiven, die Sinne schärfenden (Film-)Musik von Leonard Küßner bestimmt ist. Geflüsterte Gedichte von Paul Celan, Prosa von Ingeborg Bachmann. Kaum dass man Sprache oder Inhalt versteht. Es sind die Geister, die Kiefers Kunst beseelen, die in Satzfragmenten immer wieder auch auf seinen Werken zu lesen sind. Das Sounddesign und der Filmton schaffen es, dass das Flüstern über den Köpfen der Zuschauer den Kinoraum erfüllt. Dort, wo auch die Bilder schweben, die der Kameramann Franz Lustig in stereoskopischem 3D aufgenommen hat.
Man möchte sich in den Kinosessel kauern und still lauschen, wenn es flüstert und die Kamera durch einen trocken-kargen Baumbestand schwebt, um die darin verborgenen, zu Stein gewordenen Hochzeitskleider einzufangen, die anstatt eines Frauenkopfes die Insignien von Dichterinnen, Philosophinnen und Architektinnen übergroß in ihrem Ausschnitt tragen. Es ist ein faszinierender Einstieg in den Film, aber auch in das Werk des Künstlers, das ansonsten kaum etwas so Filigranes, Ästhetisch-Leichtfüßiges an sich hat wie hier in diesem Teil des Parks im südfranzösischen Barjac, wo Kiefer auf insgesamt 35 Hektar seine große Kunstlandschaft kultiviert.
Ein gigantomanischer Erschaffer
Kiefer ist mehr als ein bildender Künstler, er ist ein „Erschaffer“, ein Gigantomane, ein Grobschlächter. Seine Werke passen in kein Wohnzimmer; kaum eine Kunsthalle wird ihrer Herr. Seine Bilderarchive in Deutschland oder bei Paris sind in Ziegeleien oder ehemaligen Lagerhallen untergebracht. Dort lässt ihn Wenders mit dem Fahrrad durchradeln oder seine haushohen Werke ziemlich brachial auf Rollen gegeneinander schieben. Kiefers Werke gehen dadurch nicht kaputt; sie bestehen in aller Regel nicht aus leichtem Öl auf zarter Leinwand, sondern aus Blei, einer zentimeterdicken Farbschicht, abgefackeltem Stroh und einem mit einer undefinierbar schlammfarbenen Lösung imprägnierten Untergrund. Kiefer konzipiert Regale für Riesen und bestückt sie mit Bleibüchern, die ein normaler Mensch nicht ohne Kran und Gabelstapler umblättern könnte.
Wenders lässt diese Werke wirken, ohne sie einzuordnen. Es gibt kaum Kontexte und kaum Texttafeln unter den Werken. Dafür erfindet Wenders Geschichten um sie herum. „Ich wollte meine Dokumentarfilme eigentlich immer so drehen, als handelte es sich um Fiktion“, notiert er in den Informationen zum Film. Und so verwandelt sich Anselm Kiefer plötzlich in einen kleinen Jungen oder in einen jungen Mann, der durch die Szenerie wandelt und gespielte Einblicke in das Wesen von Anselm Kiefer offenbart.
Diese „Spielereien“ hätte es nicht gebraucht, da sie an die „Augmented Reality“- oder „Factual Entertainment“-Eskapaden von Fernsehsendern erinnern, die mit solchen Tricks historische Biografien mit Schauspielern „zum Leben erwecken“. Doch begreifen, warum Kiefer so tickt, wie er tickt, und warum er so gigantomanische Werke erzeugt, kann man auf diese Weise nicht.
Lange Schwenks und 3D-Einstellungen
„Anselm (Das Rauschen der Zeit)“ will Anselm Kiefer allerdings keineswegs „erklären“. Der Film wirft allenfalls Schlaglichter auf Leben und Werk. Das aber macht er auf höchst eindrückliche Weise. Einmal benutzt Wenders sogar ein Werk von Kiefer, um es für seine Zwecke zum Leben zu erwecken, indem er die im Kunstwerk verbauten alten Fotografien audiovisuell zum Leben erweckt und Filmaufnahmen des historischen Deutschlands hineinprojiziert. Hier kommt auch der 3D-Effekt wunderbar zur Geltung, den Wenders sonst eher spielerisch einsetzt, wenn er beispielsweise Bäume vor den Freilichtskulpturen „vorbeihuschen“ lässt. „3D“ ist eben nicht nur, wie Wenders meint, „eine poetische Sprache“, sondern schlicht auch ein Schauwert, der Staunen macht. Darin unterscheidet sich Wenders nicht allzu sehr von Hollywood, auch wenn er sich für seine Einstellungen und Schwenks unendlich länger Zeit lässt.
In „Over Your Cities Grass Will Grow“ hatte die Regisseurin Sophie Fiennes Kiefer bereits 2010 ein filmisches Denkmal gesetzt. Noch radikaler als bei Wenders, weil Fiennes den Mut hatte, die Werke von Kiefer über 20 Minuten hinweg wortlos abzufilmen und mit einem Soundtrack von Ligeti zu versehen. Dabei entstand fast eine Art Science-Fiction-Film wie Kubricks „2001 – Odyssee im Weltraum“, der sich derselben Art von Musik bediente, um die Zeit aufzuheben, nicht um brachiale Installationen oder die leblosen ikonischen Häusertürme im Park von Barjac in Szene zu setzen.
Beton, Stroh & Lösungsmittel
Wenders’ Film ist im Vergleich dazu filigraner und poetischer, und das liegt nicht nur am 3D-Konzept. Inzwischen gilt Anselm Kiefer als einer der wichtigsten Künstler der Gegenwart. Nach dem Ausland hat man das auch in seiner Heimat erkannt. Seine aus Blei, Stein und Farbe geformten Anklagen gegen Gewalt, Krieg und Unvernunft sind kanonisiert. Wenders tut sein Möglichstes, um dies zu unterstreichen, auch wenn zu seinem audiovisuellen Ansatz letztlich nur noch die Geruchsebene fehlt. Denn zur Überwältigung in Kiefers Hallen gehört immer auch der olfaktorische Sinneseindruck von Beton, Stroh, Leim und Lösungsmittel. Umfassen kann auch „Anselm (Das Rauschen der Zeit) diesen Künstler nicht. Aber er kommt ihm doch sehr nahe.