Es gibt viele Arten, Menschen verschwinden zu lassen. Mit Schaufel und Spitzhacke oder Benzin und Feuerzeug. Das wissen Geheimdienstler wie Zafer (Ahmet Varlı) und Hasan (Mutallip Müjdeci). Sie tun, was zu tun ist. Bei Geistern hingegen wird es schwieriger. Da braucht es für das Verschwindenlassen die richtige Zauberformel. Am allerschwierigsten aber ist es, sich der Über-Gegenwart der Bildmedien zu entledigen, derer sich Geister im Kino bedienen: Handykameras, Dashcams, Überwachungskameras. Auch wenn kein Mensch in der Nähe ist, blickt uns immer etwas an, und wir wissen meist nicht einmal, wer oder was es ist. Vielleicht wir selbst?
„Im toten Winkel“ von Ayşe Polat könnte man als politisch und medientheoretisch aufgeladene Elegie über die Paranoia des Sehens und Gesehenwerdens bezeichnen. Das klingt so komplex wie gut abgehangen, doch die deutsche Regisseurin, die auch das Drehbuch schrieb, erzeugt dabei so souverän Spannung, dass es wirklich zum Fingernagelknispeln ist. Das beginnt schon mit den ersten, unruhig-ungelenken Einstellungen und verzögerten Schärfeverlagerungen. Filmt da jemand aus einem unbekannten Auto?
Anfangs tut der Film noch so, als handle es sich um Found Footage eines sozialrealistischen Dokumentarfilms über einen sozialrealistischen Dokumentarfilm. Ein deutsches Filmteam reist in eine Kleinstadt im Nordosten der Türkei. Ihr Thema, erklärt die Regisseurin Simone (Katja Bürkle), wären „immaterielle Denkmäler“. Der Film soll zeigen, wie Angehörige die Erinnerung an ihre verschwundenen Liebsten wachhalten.
Der Blick in die Kamera
Aus der Ferne grüßt das Kino von Apichatpong Weerasethakul mit seinen toten Onkeln und verlorenen Söhnen, doch von langen Einstellungen und ruhigem Gezirpe will Ayse Polat nichts wissen. Nach einer halben Stunde und mit der Einblendung „Kapitel 2“ nimmt der Film sogar eine abrupte Wendung zum Spionage-Thriller. Zusammen mit ihrem Kameramann Patrick Orth spinnt Polat ein immer dichter werdendes Netz der ungelösten und unerlösten Bilder, indem in drei Kapiteln dasselbe Geschehen immer wieder von Neuem ins Visier genommen wird, aus unterschiedlichen und teils ungeklärten Perspektiven.
Als Schlüsselfigur tritt, wie im Kino derzeit gehäuft zu beobachten, ein kleines Mädchen auf. Mit bezwingend niedlichem, zugleich etwas gruseligem Blick sieht man Melek (Çağla Yurga) aus nächster Nähe in eine Kamera starren, eher wissend als fragend. Bis der genervte Kameramann die Übersetzerin bittet, die Kleine wegzuholen, er habe schließlich zu arbeiten. Das Mädchen weiß Dinge, die es nicht wissen kann, und spricht von einem „unsichtbaren Freund“. Simone hält das für harmlosen Kinderkram; auch sie habe einen unsichtbaren Freund gehabt, „Ernst“. Ein vielsagender Name, denn Simone nimmt das Kind nicht sonderlich ernst. Sie zeigt Melek amüsiert eine Zauberformel, mit der man so einen Freund ganz einfach wegzaubern kann. Man sieht die Szenerie von außen und aus der Perspektive jener Kamera, in die das Mädchen geblickt hat. Welche Instanzen sind hier am Werk? Wer ist der unsichtbare Freund, der erst gehen will, wenn sein Name genannt wird?
Vor 26 Jahren, erfährt man, wurde ein junger Mann aus seinem kurdischen Bergdorf entführt, vermutlich vom türkischen Geheimdienst. Burhan (Rıza Akın) hatte grüne Augen, sein Bild hängt noch immer im Haus seiner alt gewordenen Mutter Hatice (Tudan Ürper). Traumatisierte Menschen, hatte Simone im Auto ihre Vorab-Recherchen rekapituliert, seien in der Vergangenheit gefangen. „Das heißt also, es gibt für sie kein Jetzt.“ Hatice scheint aber vielmehr in einem ewigen Jetzt gefangen: „Nichts vergeht, alles bleibt“, sagt sie. Ob ihr Sohn noch lebt, weiß sie nicht. Scheinbar beiläufige Bemerkungen haben hier stets einen doppelten Boden: Damit sie so natürlich wie möglich agiert, solle sie die Crew einfach „wie Geister“ behandeln, weist die Regisseurin ihre Protagonistin an.
Burhans Suppe fürs ganze Dorf
Mit Geistern kennt sich die alte Frau aus. Seit 26 Jahren kocht sie „Burhans Suppe“ fürs ganze Dorf, wie damals bei seinem Verschwinden. Sie hegt die Hoffnung, an diesen Moment anzuknüpfen, indem sie einen dampfenden Teller für ihren Sohn bereitstellt. Etwas Materie braucht es nämlich schon, um zu gedenken; nicht umsonst steckt darin das Wort für Mutter, mater. Ob das Aroma, die Wärme, all das Unsichtbare also einen Geist erreichen und ihn wieder andocken lassen kann an die reale, schmeckbare Welt? Ob ein Film, auch so ein materiell-immaterielles Ding wie die Suppe, einen solchen Vorgang für andere wirklich sicht- und erlebbar machen kann?
Nicht richtig da ist auch Simones Kameramann Christian (Maximilian Hemmersdorfer): Als sei er buchstäblich im falschen Film, schlägt er beharrlich allerlei „richtig geile“, also pittoreske Bilder vor, die Simone alle nicht gebrauchen kann, wie „den Sonnenuntergang in Zeitraffer“. Das besitzt Komik, und dennoch sind diese Bilder-Streitereien und -Beschwörungen von einer latenten Bedrohung unterlegt. Bis der Horror immer konkreter wird und in Gestalt einer verwesten Taube seinen Weg ans Set findet. Polat gönnt dem Publikum keine Pause. Ständig ist man dabei, die Dinge in unheilvollen Zusammenhang zu bringen.
Verbindungen sind etwas Verdächtiges und Hochriskantes in einer Welt, die mit Einschüchterungen und Ängsten arbeitet. Dass ausgerechnet seine Nachbarin Leyla (Aybi Era), die Englisch-Nachhilfelehrerin seiner Tochter Melek, sich für die Deutschen als Übersetzerin hat anheuern lassen, macht den Geheimdienstler Zafer misstrauisch. Ist Leyla eine Spionin? Plötzlich erhält Zafer Videos, auf denen sein eigenes Tun zu sehen ist: Wie er liebevoll mit seiner Tochter spricht, aber auch der Moment, in dem er einen Anwalt foltert. Das führt zu Paranoia statt Bewusstheit; Erkenntnis ist nicht möglich. Der Verfolgungswahn nimmt Fahrt auf.
Virtuoses Spiel mit Genre-Konventionen
Für seine eigene Sicherheit zeichnet Zafer Videos auf, in denen er von seinen Ängsten berichtet und seinem Plan, den Boss über seinen Verdacht zu informieren. Doch anstatt ihn zu beruhigen, gibt ihm der Vorgesetzte nur einen weiteren Grund zur Sorge: Die Kollegen würden Zafer beschuldigen, dass er sie bei der Arbeit heimlich filme. Außerdem beobachte Zafers verstorbener Vater ihn vom Himmel aus. „Sorge dafür, dass er stolz auf sich sein kann.“ Noch so ein Geist, der überwacht.
Polat arbeitet virtuos mit dem Genre des Spionage-Thriller, konterkariert aber die Erwartungen und steigert so zusätzlich die Spannung. So bilden Zafer und sein Kollege Hasan anfangs noch ein verhindertes Komiker-Gespann. Nicht einmal seine Mittagspause könne man in Ruhe genießen, brummt Hasan, stattdessen muss ein Menschenrechtsanwalt entführt werden. Doch das endet genauso wenig lustig, wie sich der kumpelige „Dirty-Talk“ über einen roten Damenslip in Hasans Auto im Nachhinein als harmlos erweist.
„Im toten Winkel“ fokussiert immer mehr auf Zafer und Melek und die Frage: Was sieht sie? So mysteriös scheint eine mögliche Antwort gar nicht zu sein. Auf dem Handy ihres Vaters sieht sie ja die Videos seiner Taten. Und träumt dann schlecht. Doch auch Zafer war noch ein Kind, als er Augenzeuge väterlicher Grausamkeiten wurde. Das sei schon in Ordnung gewesen, findet der Boss: „Binde den Zweig, wenn du den Stamm formen willst.“ So kann man ein Trauma auch beschreiben.
Wer am Ende die Suppe auslöffelt
Durch die Aufsplitterung in mehrere Perspektiven und unzählige beobachtende Instanzen befindet sich „Im toten Winkel“ selbst im Modus einer unvergänglichen Gegenwart. Es ist am Ende eine ähnliche Suppe wie zu Beginn, die diesmal jedoch Meleks Mutter Sibel (Nihan Okutucu) ihrem Kind ans Bett stellt. Das Kind ist nicht krank, aber die Eltern haben beschlossen, es von der Abendgesellschaft fernzuhalten, Zafers Boss samt Familie. Die Suppe dampft, und der ins Kinderzimmer gesperrte „Geist“ findet einen Weg. Die Paranoia der Älteren erweist sich als Angst vor dem Blick auf ihre eigenen Verbrechen.
„Im toten Winkel“ entfaltet seine Kraft auch dadurch, dass er den Handlungsort seines Exotismus beraubt und einen universellen Horror herauspräpariert: Es sind überall die Taten der Väter, die zu den Albträumen der Söhne und Enkelinnen werden. Und es sind die Mütter, die am Ende die Suppe auslöffeln.