Dokumentarfilm | Deutschland 2022 | 81 Minuten

Regie: Sandra Prechtel

Eine Shoa-Überlebende, die sechs Jahre alt war, als ihre Mutter nach Auschwitz deportiert wurde, ist auch sieben Jahrzehnte später noch immer eine „Displaced Person“, die über ihr Trauma nicht reden möchte. Ihre Tochter leidet seit ihrer Kindheit unter der Passivität der Mutter und konnte nur mit Mühe für sich einen Weg der Befreiung finden. Dennoch versucht sie immer wieder, ein Gespräch mit ihrer Mutter zu erzwingen. Der Dokumentarfilm nimmt an diesen intimen Begegnungen teil, die mitunter bis an die Schmerzgrenze gehen, und beleuchtet schonungslos die sich über drei Generationen erstreckende Familientragödie. Er bezeugt einen fortwährenden Ablösungsprozess, der in der häufig zerrissenen Post-Shoa-Generation aber nie an ein Ende gelangt. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2022
Produktionsfirma
Freischwimmer Film/It Works! Medien
Regie
Sandra Prechtel
Buch
Sandra Prechtel · Kim Seligsohn
Kamera
Susanne Schüle
Musik
Reinhold Heil · Kim Seligsohn
Schnitt
Andreas Zitzmann
Länge
81 Minuten
Kinostart
23.03.2023
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Schonungsloser Dokumentarfilm über die seelischen Wunden von Shoa-Überlebenden auch in der dritten Generation.

Diskussion

Man merkt Lore an, dass sie über die Vergangenheit nicht reden will. Ihr Gesicht ist versteinert, der ganze Körper strahlt Abwehr aus. Sie ist eine Shoa-Überlebende. Ihre Wohnung quillt über mit Zeitungsartikeln und Gegenständen, die längst entsorgt werden müssten. Auf Karteikarten schreibt sie Artikel aus dem „Weser-Kurier“ ab. Sie archiviert, katalogisiert und sortiert sie in Kisten und Körben, die alle Gänge versperren. Sie schafft Ordnung, um das Unfassbare in Griff zu bekommen. Es gibt Phasen, in denen sie sich zu essen weigert.

Die Vergangenheit kehrt zurück

Ungewöhnlich ist das für eine Überlebende nicht. Andere legen Vorräte an Lebensmitteln an. Sie schweigen sich über ihre Erlebnisse aus, verdrängen das Trauma. Doch die Vergangenheit kehrt trotzdem zurück, vor allem, wenn sie Kinder bekommen haben. Diese sind es nicht selten, bei denen die nicht gelebte Trauer umso heftiger zum Vorschein kommt, in einer Depression, Überängstlichkeit oder lähmenden Selbstzweifeln. Die Sprachlosigkeit der Überlebenden belastet mitunter auch noch die Enkelkinder. Der Weg der Nachkommen, um dem Schatten der Shoa durch Aussprache und Konfrontation zu entkommen, ist belastend und nicht immer von Erfolg gekrönt.

Die belgische Filmemacherin Chantal Akerman protokollierte beispielsweise die letzte Zeit, die ihr mit der hilfsbedürftigen Mutter geblieben war. In ihrem dem Buch „Meine Mutter lacht“ (2022) erinnert sie sich an die schwierige Beziehung und den langen Abschied. Vor allem aber schrieb sie über das Schweigen der Eltern, die Weigerung der Mutter, über den Holocaust zu sprechen, dem sie knapp entkommen war. In der Kindheit bestand sie darauf, die Tochter möge sich normal anziehen und nicht auffallen. Dass diese lesbisch war, verstand sie als persönlichen Angriff, als eine Bedrohung ihrer Sicherheit. An einer Stelle schreibt Akerman: „… ich hatte oft Lust, mich umzubringen. Aber ich sagte mir, das kann ich meiner Mutter nicht antun. Später, wenn sie nicht mehr da ist.“ 2015 nahm sich Chantal Akerman das Leben.

Ein Netz der unausgesprochenen Dramen

Schuldgefühle kennt auch die Mezzosopranistin Kim Seligsohn. Als Tochter von Lore trägt sie das Trauma seit Jahrzehnten mit sich. In der Doku „Liebe Angst“, unter der Regie von Sandra Prechtel, ist sie es, die man als Co-Autorin sprechen hört. Ihre Mutter ist eine Displaced Person. Sie war sechs Jahre alt, als ihre eigene Mutter nach Auschwitz deportiert wurde. Überlebt haben sie und ihre beiden Brüder in einem Versteck in Pommern, auf dem Dachboden einer Bauernfamilie. Alle anderen Familienmitglieder wurden in den KZs ermordet. Nie wieder wollte sie über ihre Mutter sprechen. Auch nicht über ihren Sohn Tom, der Selbstmord beging. Kim Seligsohn aber möchte sich aus diesem Netz der unausgesprochenen Dramen befreien. Oder zumindest ihre eigenen Dämonen verstehen.

Die Passivität der Mutter geht sie offensiv an. Sie versucht sich ihr anzunähern, auch wenn diese sich scheinbar teilnahmslos abwendet. Sie geht mit ihr auf den Friedhof, wo sie das Grab des Bruders besuchen. In die Psychiatrie, wo sie seine Akte einsehen. Man wird Zeuge des einseitigen und zugleich intimen Duells, mitunter bis an die Schmerzgrenze, und es dauert eine ganze Weile, bis man sich nicht mehr als Voyeur fühlt.

Immer wieder ein Gespräch erzwungen

Um Risse in der Fassade der Mutter zu verursachen, erzwingt Kim Seligsohn immer wieder das Gespräch. Sie erinnert sich an ein Aufwachsen ohne Vorschriften, aber auch an die Lieblosigkeit ausbleibender Geschenke. Die Ehe der Mutter scheiterte. Sie arbeitete als pädagogische Hilfskraft in einer Schule oder putzte in einer Stadtbibliothek, da sie nachts nicht schlafen konnte. Der Selbstmord des Bruders und der Missbrauch als Jugendliche durch einen älteren Mann hatten Kim Seligsohns ohnehin angeknackste Psyche zusätzlich in Mitleidenschaft gezogen. Sie litt an Angstneurosen und fiel durch die Bewerbung an der Musikhochschule Berlin.

Mit 17 Jahren zog sie in die Stadt und mietete durch Zufall eine Altbauwohnung, die ausgerechnet gegenüber der ihrer verschleppten Großmutter lag. Der nichtjüdische Großvater hatte sich von seiner Frau getrennt, die dadurch nicht mehr durch eine „privilegierte Mischehe“ geschützt war. Auf dem Weg nach Auschwitz war sie mit dem vierten Kind schwanger.

Suche nach Stabilität

Kim Seligsohn konnte sich befreien, während ihr Bruder bei der traumatisierten Mutter blieb und allmählich sich selbst aufgab. Was nicht heißt, dass die Leidensgeschichte für Kim zu Ende ging. Sie ließ sich mit 40 Jahren taufen, möchte aber ihre jüdische Herkunft nicht verraten. Immer noch sucht sie nach Stabilität. Ihre Selbsterforschung wird von eingestreuten Film- und Audioaufnahmen begleitet. Immer wieder ist auch Kims Gesang zu hören, vertonte Gedichte und die „Hymne an die Namen“, mit der die Sängerin seit vielen Jahren in Mahn- und Gedenkstätten, Museen, Kirchen und Synagogen auftritt.

Der Krieg der Mutter tobt in ihr weiter. In dem erschütternd schonungslosen Dokumentarfilm „Liebe Angst“ wird man Zeuge eines Ablösungsprozesses, der in der häufig zerrissenen Post-Shoa-Generation nie an ein Ende gelangt. Die seelischen Wunden bleiben offen – nur das Verdrängen gelingt nicht mehr.

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