Aus Rache will der junge J. Robert Oppenheimer (Cillian Murphy) in Cambridge seinen verhassten Lehrer vergiften. Ähnlich wie die böse Königin aus „Schneewittchen“ spritzt er dafür Blausäure in einen Apfel und platziert ihn auf dem Pult des Widersachers. In Christopher Nolans mythisch aufgeladenem Biopic ist diese angeblich wahre Episode zwar schnell vorüber, in ihrer märchenhaften Symbolkraft aber doch exemplarisch. Denn weder der grün schimmernde Apfel noch der in sich gekehrte Physiker lassen auf den ersten Blick erahnen, welche zerstörerische Kraft in ihnen schlummert. Vielleicht noch wichtiger an dieser Szene ist jedoch, dass Oppenheimer die Tragweite seines Handelns erst bewusstwird, als es fast zu spät ist. Aufgeschreckt durch sein schlechtes Gewissen eilt er in die Uni und wirft die Frucht gerade noch rechtzeitig in den Müll.
Ein ungewohnt dünner Cillian Murphy spielt den „Vater der Atombombe“ mit seinen charakteristischen wachen blauen Augen und weichen, schlangenhaften Bewegungen als Kettenraucher, Womanizer, Eigenbrötler und ungemein ehrgeizigen Wissenschaftler. Oppenheimers Fallhöhe vermittelt der Film durch den Wechsel unterschiedlicher Zeitebenen. Dem Aufstieg als Quantenphysik-Pionier in den USA stellt er eine Sicherheitsanhörung aus dem Jahr 1954 gegenüber, in der sich der Wissenschaftler wegen seiner kommunistischen Vergangenheit und seinen nachträglichen Zweifeln zur Atombombe rechtfertigen muss. Eine weitere, aus nicht ganz nachvollziehbaren Gründen in schwarz-weiß gedrehte Anhörung widmet sich einige Jahre später der anstehenden Neuwahl des Handelsministers Lewis Strauss (Robert Downey jr.), der in der Atomenergiebehörde arbeitete und zum Gegenspieler Oppenheimers wurde.
An der großen Verantwortung zerbrechen
„Oppenheimer“ erzählt, wie der Titelheld an seiner großen Verantwortung zerbricht. Gleich zu Beginn wird er mit Prometheus verglichen, der den Menschen das Feuer brachte und dafür von Zeus bestraft wurde. Nach dem griechischen Titan wurde bereits die 2006 erschienene Oppenheimer-Biografie von Kai Bird und Martin J. Sherwin benannt, auf der der Film basiert. Das Unscheinbare wandelt sich in „Oppenheimer“ immer wieder zum Überwältigenden, die auf einen zerknüllten Zettel gekritzelte Formel letztlich zur Katastrophe.
Als Wandler zwischen Mainstream- und Arthousekino strebt Nolan zu Komplexität und Größe. Was durch die verschachtelte, barock ausladende Erzählweise verloren geht, versucht er mit seiner imposanten Inszenierung auszugleichen. Die analogen, kontrastreichen Bilder von Kameramann Hoyte van Hoytema sind breit und tief. Endlos wirken darin nicht nur die weite Landschaft New Mexicos, sondern auch die Räume, die von den inbrünstig aufspielenden Darstellern beherrscht werden.
Wie bei dem Apfel ist auch die verspätete Reue bei der Entwicklung der Atombombe ein Problem der Abstraktion. Obwohl Oppenheimer sich zum Missfallen seiner Kollegen für linke Belange wie Gewerkschaften einsetzt, ist er doch vor allem Vollblut-Wissenschaftler. Die nur kurz angeschnittenen, bald tragisch verlaufenden Beziehungen zu Jean Tatlock (Florence Pugh) und seiner späteren Frau Kitty (Emily Blunt) sind lediglich ein fleischliches und emotionales Zwischenspiel auf dem Weg in die Isolation der Forschung. Meist spielt der Film unter Männern, die auf Tafeln schreiben, fachsimpeln oder auch streiten. Die Ernsthaftigkeit und Präzision, mit der Nolan sich seinem Thema widmet, gerät dabei durch die oft dialoglastigen Szenen manchmal überfordernd.
Wissenschaft und Politik untrennbar miteinander verbunden
Überwiegend abwesend ist in „Oppenheimer“ die Außenwelt. Im Rahmen des Manhattan-Projekts wird schließlich für die Entwicklung der Atombombe sogar eine eigene Parallelwelt in der Wüste aus dem Boden gestampft. Der Physiker beteiligt sich aus pragmatischen Gründen an der Aktion: Wenn es schon eine Massenvernichtungswaffe geben muss, sollte sie nicht als erstes von den Nazis entwickelt werden. Wissenschaft und Politik bleiben im Film untrennbar miteinander verbunden. Als Oppenheimer für seinen Amtsantritt eine Uniform der US-Army trägt, fordert ihn sein Kollege umgehend auf, sie auszuziehen. Er sei schließlich Physiker. Die Unmöglichkeit, in seiner Position unpolitisch zu bleiben, wird für Oppenheimer später zur immer stärkeren Gewissheit.
Wie sein Titelheld steht auch der Film vor der Herausforderung, tief in die Theorie einzutauchen und doch nicht an Vorstellungskraft zu verlieren. „Oppenheimer“ ist dabei stets darum bemüht, seine Handlung zu überhöhen und sinnlich zu vermitteln. Von Anfang an durchzieht den Film ein unheilvolles Raunen. Immer wieder flackern Bilder von schwebenden Partikeln, sprühenden Funken und quellenden Rauchwolken auf. Neben wummernden Toneffekten dröhnt dazu meist der Soundtrack von Ludwig Göransson, dessen minimalistisches Pathos an Hans Zimmer erinnert. Mal sind es sich nervös hochschraubende Streicher, mal wuchtige Bläserfanfaren oder außerweltliche Synthesizerklänge, durch die sich die anstehende Erschütterung ankündigt.
Unweigerlich muss sich die Formel materialisieren
Der Spannungseffekt von „Oppenheimer“ entsteht dadurch, dass sich die Formel unweigerlich materialisieren muss. Der Trinity-Test aus dem Jahr 1945, bei dem die Atombombe zum ersten Mal in der Wüste gezündet wird, dient dem Film dabei als dramatischer Höhepunkt. Was zuvor unter der Oberfläche brodelte, entlädt sich nun in einem visuellen Exzess. Der wissenschaftliche Geniestreich und die faszinierende Schönheit der Explosion stehen dabei im Widerspruch zur barbarischen Vernichtung, die sie mit sich bringen. Auf Archivmaterial aus Hiroshima und Nagasaki verzichtet der Film. Das Dilemma, das dem Physiker weit mehr Verantwortung aufbürdet, als sie ein einzelner Mensch tragen kann, gräbt sich stattdessen tief in Cillian Murphys desillusioniertes Gesicht.