Drama | USA 2022 | 100 Minuten

Regie: Rodrigo García

Zwei Halbbrüder tragen den Vater, dessen Brutalität ihre Kindheit prägte und von dem sie beide seit Jahren entfremdet sind, zu Grabe. Die Absurditäten und Zumutungen am Tag der Beisetzung schälen sukzessive die Wut und den Schmerz frei, den beide tief vergraben haben, eröffnen aber auch neue Perspektiven auf den Verstorbenen, der sich in seinen späteren Jahren stark verändert hatte. Das Drama ist in seiner bühnenhaften, dialoglastigen Inszenierung filmisch recht unambitioniert. Die temporäre Intimität der Beerdigung trifft es jedoch ebenso gut, wie das fantastische Hauptdarstellerpaar die Befindlichkeiten der Protagonisten und ihre Beziehung herausarbeitet. - Ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
RAYMOND & RAY
Produktionsland
USA
Produktionsjahr
2022
Produktionsfirma
Apple Studios/Mockingbird Pict.
Regie
Rodrigo García
Buch
Rodrigo García
Kamera
Igor Jadue-Lillo
Musik
Jeff Beal
Schnitt
Michael Ruscio
Darsteller
Ethan Hawke (Ray) · Ewan McGregor (Raymond) · Sophie Okonedo (Kiera) · Maribel Verdú (Lucia) · Tom Bower (Harris)
Länge
100 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama | Komödie
Externe Links
IMDb | TMDB | JustWatch

Ein Drama um zwei Halbbrüder, die sich bei der Beerdigung ihres verhassten Vaters treffen und sich ihrer Wut und ihrem Schmerz stellen müssen.

Diskussion

Ray (Ethan Hawke) hat mit seinem Vater abgeschlossen. Er nickt die Beileidsbekundungen ab, spendiert ein routiniertes Lächeln für die kurzen Anekdoten über den kürzlich Verstorbenen und flirtet mit den Mitarbeiterinnen des Bestattungsinstituts, wo der Leichnam aufgebahrt ist. Als er selbst am Grab des Vaters steht, hält er keine Trauerrede, sondern hebt schlicht den Mittelfinger in Richtung des Mannes, der die Gewalt in seine und die Kindheit seines Halbbruders brachte.

Raymond (Ewan McGregor) hat es schwerer. Es war sein Vorschlag, zur Beisetzung aufzubrechen. Einen Abschluss finden wollte er, für sich und seinen Bruder. Jetzt, wo auch er vor dem Grab des Vaters steht, ist nichts abgeschlossen. Keine Trauerrede und auch keinen Mittelfinger gibt es. Raymond findet keinen Ausdruck für das, was der Tod des verhassten Vaters ihm hinterlässt.

Um Leerstellen gebaut

„Raymond & Ray“ ist um eben diese Leerstellen gebaut; um die Narben, die nach einer Kindheit voll Missbrauch geblieben sind; um das, was nach dem Tod des Peinigers nicht mehr ans Licht kommen wird. Ein langer, von den Strapazen der Bestattungsbürokratie, des väterlichen Nachlasses und der Ungewissheit geprägter Tag ist der Rahmen. Ein Tag, an dem die Sonne über dem Friedhof scheint und sich keiner der Brüder sicher ist, ob das ein falsches oder doch angebrachtes Zeichen ist. Die Trauer kommt natürlich trotzdem – auch zu Ray. Die Krankenpflegerin seines Vaters (Sophie Okonedo) erzählt ihm, dieser habe Schmerzmittel bis zum Ende abgelehnt, zur Linderung nur wieder und wieder ein einziges Lied gehört. Jazz war es. Im Vordergrund eine Trompete – Rays Instrument. Das Handy, auf dem der Song gespeichert war, hat der Sohn der Liebhaberin des Vaters geerbt.

Der Film bleibt offen für den Humor, der aus dem späten Leben des Vaters ins Jetzt greift. Die Gegenwart wird dazu nie verlassen. Es gibt keine Rückblenden. „Raymond & Ray“ respektiert die Endgültigkeit des Todes. Die Absurditäten und unterschiedlichen Perspektiven bringt der Rest der Trauergemeinschaft mit. Ray und Raymond lernen weitere Halbbrüder kennen, von deren Existenz sie bisher nichts ahnten, lassen sich von der knapp ein halbes Jahrhundert jüngeren Geliebten des Vaters (Maribel Verdú) bekochen, bekommen von seinem Anwalt mitgeteilt, dass dieser testamentarisch von den Söhnen fordert, eigenhändig das Grab für ihn zu schaufeln, und treffen seinen stylischen Pastor (Vondie Curtis-Hall) mit Flachmann in der Jackentasche.

Viele intime Zweier-Szenen

Viele der Begegnungen sind intime Zweier-Szenen, die den Eindruck vermitteln, sie gehörten eigentlich auf eine Bühne. Dialoge im Trauersaal oder ein Spaziergang abseits der Gemeinde auf den mitunter recht ausgelatschten Pfaden der Selbsterkenntnis geben dem Film eine unambitionierte, theatralische Ästhetik, die jedoch recht passgenau auf die temporäre Intimität zugeschnitten scheint, die eine Beerdigung eben jedem Gespräch zwischen Hinterbliebenen gibt.

Die Begegnungen, Zumutungen und Überraschungen des Tages schälen sukzessive das Leben hinter den Schutzräumen frei, die die Söhne sich gebaut haben. McGregor und Hawke finden wieder und wieder mühelos die kleinen, stillen Gesten der Solidarität zwischen Brüdern: Der Spießer Raymond, der jede Konfrontation gemieden und dessen Persönlichkeit sich nur in absolut sicherer Umgebung ganz hinauswagt, und der Musiker Ray, der so hart mit dem Leben kollidiert ist, dass allein Alkohol und Heroin den Schmerz betäuben konnten, tauschen Blicke aus, ohne sich anschauen zu müssen, und lassen unausgesprochen, was die gemeinsam erfahrene Grenze des Schmerzes allzu empfindlich berührt.

Ein letztes Mal ausgegraben

Eine große „Männer reden nicht über Gefühle“-Darbietung, die dem ansonsten recht gefälligen Gestus des Films viel Gewicht gibt. Kleinste Regungen lassen kurz durchschimmern, was ein Leben lang verinnerlicht und vergraben wurde. Nun wird es ein letztes Mal ausgegraben – vielleicht um wirklich einmal über die eigenen Gefühle zu reden.

Kommentar verfassen

Kommentieren