Marek Edelman ... Und es gab Liebe im Ghetto

Dokumentarfilm | Polen/Deutschland 2019 | 80 Minuten

Regie: Jolanta Dylewska

Das Leben der von 1940 bis 1943 im Warschauer Ghetto von den NS-Besatzern eingepferchten Juden war von Hunger, Seuchen und der ständigen Angst vor der Deportation in die Todeslager geprägt. Marek Edelman, einer der wenigen Überlebenden des Aufstands im Warschauer Ghetto von 1943, erzählt in diesem Dokumentarfilm, dass es an diesem leidvollen Ort auch Liebe gegeben hat. Seine Erfahrungsberichte sind wichtige historische und menschliche Zeugnisse. Durch die wenig sensible Fragestellung der Regisseurin sowie eine unsubtile Verwendung von Archivmaterial und redundant inszenierten Nachstellungen seiner Schilderungen wird der Film jedoch verwässert. - Ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Polen/Deutschland
Produktionsjahr
2019
Produktionsfirma
Otter Films/Pallas Film
Regie
Jolanta Dylewska · Andrzej Wajda
Buch
Jolanta Dylewska · Andrzej Wajda
Kamera
Jakub Kijowski · Jolanta Dylewska
Musik
Raphael Roginski
Schnitt
Isabela Pająk
Darsteller
Aleksandra Poplawska (Dola) · Marek Kalita (Volksdeutscher) · Alina Swidowska (Frau Tennenbaum) · Maria Semotiuk (Deda) · Eryk Kulm (Dedas Freund)
Länge
80 Minuten
Kinostart
08.09.2022
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm | Dokumentarisches Porträt

Doku mit nachgestellten Szenen über die Liebe im Warschauer Ghetto nach Erinnerungen von Marek Edelman (1919-2009), einem der Kommandeure des Aufstandes von 1943.

Diskussion

„Warum fragt mich niemand, ob es im Ghetto Liebe gegeben hat? Warum interessiert das niem anden?“ So äußerte sich der Widerstandskämpfer, Zeitzeuge und Kardiologe Marek Edelman kurz vor seinem Tod im Jahr 2009. Edelman, der als junger Mann einer der Anführer des Aufstandes im Warschauer Ghetto war, hat Zeit seines Lebens in Büchern, Ton- und Bilddokumenten über die unmenschlichen Zustände im Warschauer Ghetto Zeugnis abgelegt. Dort wurden ab 1940 Hunderttausende Juden zusammengepfercht und starben entweder an Hunger und Seuchen oder wurden in die Vernichtungslager deportiert. Im Frühjahr 1943 wurde das Ghetto nach dem gescheiterten Aufstand einiger Hunderter Verbliebener von den Deutschen vollständig vernichtet.

Große Gefühle inmitten des Elends

Dass es inmitten dieses Elends auch große Gefühle gegeben hat, zeigt nun der Dokumentarfilm von Jolanta Dylewska, die Edelman dazu gebracht hat, vor der Kamera einige Episoden von Liebe zwischen Paaren und Familienmitgliedern zu schildern. Auch Edelmans Zeitgenosse, der polnische Regisseur Andrzej Wajda (1926-2016), war in das Projekt eingebunden und fungierte als Berater; die Regisseurin Agnieszka Holland hat am Drehbuch mitarbeitet.

Doch trotz dieses geballten Know-hows und eines beeindruckenden Zeitzeugen ist daraus kein guter Film entstanden, denn es haftet „Marek Edelman …Und es gab Liebe im Ghetto“ etwas Unentschlossenes und Unvollendetes an.

Das Werk beginnt mit einem Text, der als geschichtliche Einordnung des Ghettos fungiert. Es war von einer drei Meter hohen, mit Stacheldraht und Glas versehenen Backsteinmauer umgeben, wird erläutert. Dann folgen originale Schwarz-weiß-Archivbilder, welche ein Ghetto von außen zeigen. Allerdings erfährt man erst im Abspann, dass es sich tatsächlich um das Warschauer Ghetto handelt; ein Rest von Zweifel über die Provenienz der Bilder bleibt dennoch.

Regisseurin Dylewska tritt nie selbst vor die Kamera; sie befragt Edelman aus dem Off nach seinen Erfahrungen und Beobachtungen. Während Edelman ein gewisses, sich im Laufe des Films steigerndes Unbehagen an dem filmischen Unterfangen anzumerken ist, bleiben die Sequenzen, wo der sehr betagte Mann rauchend in die Kamera spricht, die beeindruckendsten und wichtigsten des Films.

Schauspieler in historischen Kulissen

Doch das Erzählkonzept von Dylewska (und offenbar auch von Wajda und Holland) vertraut dem bedeutsamen Protagonisten nicht. Stattdessen werden viele der von Edelman geschilderten Erlebnisse von sehr heutig wirkenden polnischen Schauspielern in historischen Kostümen und Kulissen nachgestellt. Meist sind diese Inszenierungen sehr redundant, weil sie Edelmans Erzählungen plump bebildern und kaum ergänzen. Nur einmal bindet der Film das heutige Warschau in die Inszenierung mit ein. Als Kulisse dient das nach dem Krieg errichtete Denkmal für die ermordeten Warschauer Juden auf dem ehemaligen „Umschlagplatz“, die so eine Brücke vom Gestern ins Heute schlägt. Solche künstlerischen Dimensionen sind allerdings selten. Meist wirken die inszenierten Szenen wie Material aus einer Fernsehdokumentation im Stile von Guido Knopp.

Auch die regelmäßig eingeblendeten Archivbilder des Ghettos mit seinen ausgemergelten und sterbenden Bewohnern verwendet der Film fast willkürlich und mit wenig Respekt vor den Opfern. Sie wirken eher als Schockelemente und werden nicht in die spezifische Erzählsituation integriert. Die von Edelman erzählten Episoden sind ergreifend und oft auch erschütternd. Junge Menschen, denen die Chance zur Flucht offen gestanden hätte, blieben aus Liebe bei Schutzbefohlenen oder älteren Familienmitgliedern und gingen wissentlich in den Tod. Paare, die auf die „arische Seite“ Warschaus fliehen konnten, wurden denunziert und danach entweder gleich ermordet oder später deportiert. Auch Liebesgeschichten zwischen Menschen innerhalb des Ghettos sind wegen der regelmäßig einsetzenden Deportationen und anderer Gefahren nur von kurzer Dauer.

Die erste und für die meisten letzte Liebe

Dennoch, so Edelman, blühten diese meist jungen Menschen, die für einige Monate ihre oft erste und gewiss letzte Liebe erlebten, in dieser Zeit auf und trotzten Entbehrungen und Ausgangssperren. Auch eigene Liebeserfahrungen schildert Edelman: Wie ihn eine schöne Krankenschwester verführen wollte, er sich aber nicht traute, dafür aber später Momente des Glücks mit anderen Geliebten erlebte. Man merkt, wie wichtig es ihm ist, auch über diese Hoffnungsschimmer im Alltag des Ghettos zu berichten; dann bereichert Edelman seine Sprache hörbar mit poetischen Metaphern.

Bedauerlicherweise hört man Edelmans Stimme in der deutschen Fassung jedoch kaum, da ein Sprecher ihn übertönt. Auch die Übersetzung mutet mitunter sprachlich unbeholfen an. Bezeichnend für das Misslingen des Films – trotz seiner guten Absichten – ist der zunehmende Unmut Edelmans im Laufe des Films. Zwischen einigen Wortfindungsschwierigkeiten, die dem ansonsten geistig sehr fitten alten Mann zuweilen unterlaufen, stört er sich an den Nachfragen der Regisseurin. Manchmal spricht er sie direkt an, mitunter sogar aggressiv, denn beide verfügen über unterschiedliche Erfahrungshorizonte.

Die emotionalen Wunden übersehen

Während es Dylewska als ihre Aufgabe ansieht, nachzuhaken, um Edelman mehr Informationen zu entlocken, übersieht sie die emotionalen Wunden ihres Gesprächspartners. Zum einen verweigert er sich auf eine sehr bescheidene Art jeder Form von Heroisierung seiner Taten. Zum anderen merkt man ihm aber auch an, dass seine damalige Unfähigkeit als Ghettoinsasse, mehr seiner Leidensgenossen zu retten, ihm noch im hohen Alter zu schaffen macht. Dieser Mangel an Einfühlungsvermögen durch die Regisseurin überschattet nicht nur den Dialog mit Edelman, sondern den gesamten Film, der ein wenig erforschtes historisches Thema mit inadäquaten filmischen Mitteln verschenkt.

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