Dokumentarfilm | Mexiko 2017 | 74 Minuten

Regie: Everardo González

Ein Dokumentarfilm über den mexikanischen Drogenkrieg, in dem Täter wie Opfer vor der Kamera über ihre furchtbaren Erlebnisse erzählen, wobei alle Strumpfmasken tragen. Die radikale filmische Versuchsanordnung gewährt erschütternde Einblicke in die alltäglichen Gewaltexzesse und Strukturen einer Gesellschaft, die ihren moralischen Kompass verloren hat. Der mutige Film setzt darauf, dass das Aussprechen der schrecklichen Erlebnisse die Basis für eine dringend benötigte Diskussion innerhalb der Gesellschaft bilden kann. - Sehenswert ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
LA LIBERTAD DEL DIABLO
Produktionsland
Mexiko
Produktionsjahr
2017
Produktionsfirma
Animal de Luz Films/Artegios
Regie
Everardo González
Buch
Everardo González · Diego Enrique Osorno
Kamera
María Secco
Musik
Quincas Moreira
Schnitt
Paloma López
Länge
74 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
IMDb | TMDB | JustWatch

Opfer und Täter des mexikanischen Drogenkriegs berichten über ihre Erfahrungen. Die erschütternden Bekenntnisse fügen sich zum pessimistischen Porträt einer Gesellschaft, die ihren moralischen Kompass verloren hat.

Diskussion

Vor der schwarzen Leinwand spricht ein Zeuge aus dem Off von einer „totalen Barbarei“; die Kamera erfasst einen Wald im grauen Nebel und eine gefesselte Leiche mit einem Plastiksack über dem Kopf. Ein junges Mädchen erzählt mit Blick in die Kamera, wie ihre Mutter von Bewaffneten entführt wurde und nie mehr zurückkehrte. Schon die ersten Sätze und Bilder setzen den düsteren, pessimistischen Grundton in einem verstörenden Dokumentarfilm über den anhaltenden Drogenkrieg in Mexiko und dessen verheerenden Folgen für die Gesellschaft.

Täter und Opfer im geschützten Raum

Dass in Mexiko inzwischen Hunderttausende dem Krieg der Drogenbanden untereinander, aber auch dem Kampf der Behörden gegen die Drogenkartelle zum Opfer gefallen sind, ist bekannt. Jüngst hatte auch der bittere Spielfilm „Was geschah mit Bus 670?“ über eine Mutter, die ihren verschwundenen Sohn sucht, das brisante Thema aufgegriffen.

Der Dokumentarfilmer Everardo González schlägt mit Hilfe einer radikalen Methode einen anderen Weg ein, um sich mit den Gewaltexzessen, ihre Ursachen und Folgen in seinem Heimatland auseinanderzusetzen. Er lässt Opfer der Gewalt und ihre Angehörigen zu Wort kommen, aber auch Täter. Ein Verfahren, dass an die Wahrheits- und Versöhnungskommission in Südafrika erinnert, wo es um die Aufarbeitung der Verbrechen unter dem Apartheid-Regime ging.

In „Devil’s Freedom“ sprechen beide Gruppen allerdings anonymisiert über ihre Erfahrungen, da sie hautfarbene Strumpfmasken tragen, die nur Augen, Nase, Mund und Ohren freilassen, was an das Doku-Porträt eines mexikanischen Kartell-Killers in „Der Auftragskiller - Zimmer 164“ von Gianfranco Rosi erinnert. Die Protagonisten, die im Zuge einer fünfjährigen Recherche gefunden wurden, sind damit einigermaßen vor Verfolgung und Vergeltung geschützt. Es scheint aber auch so zu sein, dass die Masken Opfern wie Tätern dabei helfen, sich zu öffnen.

Ein junges Mädchen zeigt die einzigen Fotos, auf denen sie mit ihrer Mutter zu sehen ist, die von Bewaffneten verschleppt wurde. Eine Frau erzählt, wie sie vergeblich versuchte, das Leben ihrer Kinder zu retten. Eine andere schildert, wie sie in einem Massengrab den Turnschuh ihres Sohnes erkannte und darüber zusammenbrach. Ein junger Mann berichtet von seinen erfolglosen Versuchen, den Aufenthaltsort seiner beiden Brüder herauszufinden, die von der Polizei verhaftet worden waren.

Ein anderer erzählt von seinem ersten Auftragsmord im Alter von 14 Jahren und seinem Stolz auf den Lohn dafür: einen Audi A4. Ein Soldat bekennt, dass er von der Armee desertierte, weil er nicht mehr für die Drogenkartelle arbeiten wollte.

Zu den erschütterndsten Sequenzen zählt die Erzählung eines korpulenten Mannes, der auf dem Nachhauseweg von einer Polizeistreife angehalten, gefoltert und vergewaltigt wurde. Vor der Kamera gibt er auch preis, dass er zum ersten Mal über dieses traumatische Erlebnis spricht.

Der Redefluss kommt ins Stocken

Wegen der Masken kann man die Emotionen der Menschen nicht an ihren Gesichtszügen ablesen; ihre Gefühle lassen sich zum Teil aber erahnen, wenn etwa die Maske einer Frau unter den Augen feucht wird. Bei den Schilderungen wird man zuweilen auch Zeuge, wie sich Opfer und Täter ihrer Emotionen bewusstwerden und Schmerz oder Reue zulassen. Der Redefluss kommt dabei immer wieder ins Stocken; die Protagonisten brauchen Zeit, um sich zu sammeln.

Zwischen die Auftritte vor der statischen Kamera werden Impressionen aus der trostlosen Wüste, enigmatische Bilder wie ein brennendes Auto oder Aufnahmen von ebenfalls maskierten Familienmitgliedern der Protagonisten eingefügt. Diese Gliederungselemente, wohl zur Entlastung gedacht, sind mit meditativen Klängen unterlegt.

Bemerkenswert sind die Berichte einiger Opfer, dass die oft minderjährigen Killer unter Drogeneinfluss agieren, nervös sind und manchmal so verängstigt wirken wie ihre Gefangenen. Manche verstricken sich auch in Widersprüche. So erklärt ein junger Mörder, wie er durch seine Verbrechen jedes Mitgefühl verloren habe, doch dann enthüllt er, dass es für ihn am schwierigsten sei, Kinder zu töten. Auffällig ist ein wiederkehrendes Argumentationsmuster. Sowohl die jungen Killer der Kartelle als auch korrupte Polizisten und Soldaten berufen sich immer wieder auf Befehlsnotstand. „Du musst Befehle befolgen, du kannst nichts tun“, sagt einer von ihnen.

Die Gewaltspirale dreht sich weiter

Ein großes Verdienst von „Devil’s Freedom“ besteht darin, dass er nicht wertet oder belehrt. Er ermöglicht es einem Mörder, Reue zu zeigen und die Hinterbliebenen um Verzeihung zu bitten. Der Film präsentiert aber auch eine junge Frau, die sagt: „Nein, ich werde weder verzeihen noch vergessen“. Sie fordert vielmehr die harte Bestrafung aller Verantwortlichen.

Der Film avanciert so zum Porträt einer Gesellschaft, die anscheinend jegliche Werte verloren und sich in einem Teufelskreis aus Gewalt und Gegengewalt verstrickt hat. Je länger man den deprimierenden Schilderungen zuhört, umso dringlicher stellt sich die Frage, wie Mexiko je aus dieser Sackgasse wieder herausfinden will?

Indem die Inszenierung Opfer wie Täter formell auf die gleiche Stufe stellt, legt der Film nahe, dass er auch die Täter als Opfer der allgegenwärtigen Gewaltspirale betrachtet. Everardo González geht offensichtlich davon aus, dass das Aussprechen der eigenen Erlebnisse eine heilsame Wirkung entfalten oder dass auf diesem Weg wenigstens die Basis für eine offene Diskussion geschaffen werden kann.

Am Ende überrascht der Film mit einer ungewöhnlichen Geste. Eine einzige Person legt vor der Kamera die Maske ab und zeigt ihr vom Leid gezeichnetes Gesicht. Ihr sehr zartes Lächeln vermittelt ein kleines Zeichen der Hoffnung.

Kommentar verfassen

Kommentieren