Ganz am Schluss von „Potato Dreams of America“ wird deutlich, dass der Film die Einlösung eines Versprechens seines Regisseurs Wes Hurley ist, nämlich seine Geschichte zu erzählen, die so extravagant ist, dass jeder sie hören und sehen kann: als Film, nicht länger Face-to-Face. Was insofern etwas überraschend ist, weil Hurley diese Geschichte als dokumentarischer Kurzfilm „Potato Dreams“ schon einmal erzählt hat.
„Potato Dreams of America“ nimmt sich jetzt die ästhetische Freiheit der Fiktionalisierung und Stilisierung. Der Film beginnt 1985 in Wladiwostok. Das Ende des real existierenden Sozialismus ist nahe; im Fernsehen sieht man bereits Gorbatschow. Die Hoffnungen sind gewaltig; vielleicht gibt es bald Redefreiheit oder Toilettenpapier.
Dem kleinen Vasili, genannt Potato, ist der Untergang der Sowjetunion mehr als egal. Recht früh übt er sich, keck und angstfrei, in freier Meinungsäußerung und kritisiert die Verherrlichung der Oktoberrevolution. Die Lehrerin warnt ihn: „Wenn ich das gesagt hätte, was du gerade gesagt hast, als ich so alt war wie du …“ Doch für ihn gleichen die Kommunisten den Nazis. Seine Mutter arbeitet als Gefängnisärztin. Ihre Aufgabe besteht zumeist darin, jeden Totschlag weisungsgemäß als Unfall zu begutachten.
Im Reich US-amerikanischer Raubkopien
Nur die Alten, etwa Potatos Großmutter, trauern der Sowjetunion nach, was allerdings zugleich mit prinzipieller und stockkonservativer Menschenverachtung einhergeht. Die Jugendlichen dagegen, sofern sie sich nicht mit Drogen vergnügen, schildern einander US-amerikanische Filme wie „Total Recall“ oder "Star Wars, Episode 35". Potato ist ein Fan des US-Kinos, weil es dort, anders als im sowjetischen Kino, zuverlässig ein Happy End gäbe. Vielleicht rührt sein Kommunisten-Nazi-Vergleich auch daher.
Doch der Zusammenbruch der Sowjetunion bringt nicht nur Vorteile wie etwa Farbfernseher und US-amerikanische Filme, sondern auch christliche Missionierungsversuche, die sogleich Homophobie und Antisemitismus virulent werden lassen. Zudem fürchtet Potatos Mutter nichts so sehr wie die Möglichkeit, dass ihr Sohn zur Armee muss. Immerhin bringen die Missionarinnen Potato auf die Idee, Jesus in sein Leben zu lassen und ihn gleich mit nach Hause zu nehmen, wo dieser dann den ganzen Tag vor der Glotze hängt, freundlich und milde lächelnd.
Die Katalogbraut & John aus Seattle
Der erste Teil des Films, der in der Sowjetunion spielt, ist sehr stilisiert als Theaterinszenierung in Szene gesetzt, was durchaus dem Budget des Films geschuldet sein mag. Die zumal aus aktueller Sicht forcierte Beschreibung der sowjetischen und post-sowjetischen Lebensverhältnisse ist hingegen plastisch zugespitzt. Durch die Perspektive des selbstbewusst-wortgewandten Potato erinnert das vom Tonfall her (und auch aufgrund der Präsenz von Jesus) mitunter an „Jojo Rabbit“.
Einen Ausweg aus den bedrückenden Verhältnissen eröffnet dann ausgerechnet der internationale Heiratsmarkt. Mutter Lena annonciert sich als Katalogbraut. Mit Erfolg! John aus Seattle zeigt sich interessiert. Doch die Amerika-Träume passen nicht zur Amerika-Realität. Lena und Potato kommen vom Regen in die Traufe, denn John ist der Prototyp eines christlichen Fundamentalisten, reaktionär, homophob, antisemitisch, ein staatsfeindlicher Patriot.
In Seattle ändert der Film seinen Inszenierungsmodus, wird heller, beweglicher, realistischer, so als gelte es, den Neuanfang zu illustrieren. Wenn Mutter und Sohn die Kunst der bewusst oder tatsächlich naiv missverstehenden Kommunikation zelebrieren, die Subversion durch Fremdsprache, läuft die schwarze Komödie zu großer Form auf. Verfügten die Figuren im ersten Teil noch über einen ausgeprägten US-Akzent, so sprechen sie jetzt deutlich mit russischem Akzent. Ein Kino der Transition, der Identität(en).
Out of the closet!
Eine zusätzliche Ebene kommt hinzu, als Potato sich gegenüber seiner Mutter als homosexuell outet. Erstmals habe er seine Queerness in der Gegenwart von Jesus bemerkt, als die beiden im Fernsehen einen TV-Ausschnitt aus einem Van-Damme-Film sahen. John, der zuvor schon gedroht hatte, dass er bei Missfallen der gelieferten Ware auch ein Umtauschrecht habe, fällt aus allen Wolken.
Potatos lang verheimlichte Queerness droht den Traum von Amerika damit zu beenden. Doch „Potato Dreams of America“ ist eben doch ein US-amerikanischer Film, weshalb er sich eine geradezu atemberaubende Pointe leistet, die als dritter Teil ein Happy Ending für alle Figuren ermöglicht. Um es mit Lena zu formulieren: „Transgender is fine with me, but karaoke every night, pffft.“
So changiert der Film ästhetisch zwischen Off-Theater und Sitcom, Ed Wood, Woody Allen in seiner „Annie Hall“-Phase und Gregg Araki, zwischen Satire und Melodram und politisch zwischen schlagfertiger Kritik an Dogmen aller Couleur und striktem emanzipatorischem Impuls im Gewand einer theatralischen Sitcom mit erstaunlichen Camp-Anteilen. Am Ende ist es Potato leid, jedem Liebhaber stets aufs Neue erklären zu müssen, was es denn mit seinem „sexy“ Akzent auf sich habe und entschließt sich stattdessen, seine Geschichte zu verfilmen. Mit den Dreharbeiten dazu endet der Film.