Auf der Böschung neben dem Sportstadion im Berliner Mauerpark wimmelt es von jungen Menschen. Sie sitzen in kleinen Grüppchen zusammen, trinken, lachen und blicken von der Anhöhe auf die Stadt. Ein lauter Techno-Beat schallt über die trockene Grünfläche; manche tanzen dazu. Über ihre bewegten Körper legt sich aus dem Off eine kraftvolle Stimme, die ein altes Lied anstimmt: „Wenn ich ein Vöglein wär’, und auch zwei Flüglein hätt’, flög ich zu dir; weil’s aber nicht kann sein, bleib ich allhier.“
Der Gesang von Bettina Wegner lässt die Sehnsucht aus den Versen körperlich werden. Inmitten dieser Bildsequenzen aus der Gegenwart eröffnet ihr Lied eine tiefe Spannung zur Geschichte des Ortes. Entlang der Böschung verlief ab 1961 der Todesstreifen der Berliner Mauer, der Ost und West gewaltsam trennte. „Hüben“ und „drüben“, wie Wegner es noch heute im Gespräch mit Regisseur Lutz Pehnert nennt.
Die Liedermacherin führt Pehnert durch das kleine Haus, das sie nach ihrer erzwungenen Ausbürgerung aus der DDR im Jahr 1983 bezog und in dem sie auch heute noch wohnt. Am Ende des Gartens, erinnert sie sich, lagen damals ein paar verrostete Bahngleise. Die Vorbesitzer witzelten darüber, dass dort höchstens nach der deutschen Wiedervereinigung wieder ein Zug fahren würde. Allen Beteiligten schien das damals vollkommen irreal. Heute dröhnen die Waggons der Berliner S-Bahn auf dem Weg nach Oranienburg am Haus von Bettina Wegner vorbei.
Moralische Aufrichtigkeit im autoritären System
Dieses Bild fängt das Gefühl der Entwurzelung ein, das Wegner oft besungen hat, und dem sich „Bettina“ behutsam aus verschiedenen Richtungen nähert. Besonders eingängig ist dabei eine Passage, die eine Gerichtsverhandlung gegen die Sängerin im Jahr 1968 thematisiert. Die Stimme der damals 21-Jährigen klingt schüchtern und zerbrechlich. Sie wurde verhaftet, weil sie zwei Dutzend handgeschriebene Flugblätter verteilt hatte, die sich gegen den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten in die Tschechoslowakei richteten.
Der auf Tonband mitgeschnittene Prozess ist über Wegners persönliche Geschichte hinaus ein aufschlussreiches Dokument des autoritären Machtapparates der DDR. Pehnert blendet die Mitschrift der Aufzeichnung visuell ein, was die Absurdität des Verhörs besonders anschaulich macht. Bemerkenswert an Wegners Aussage zu ihren Motiven ist ihre freimütige Aufrichtigkeit, die angesichts der Situation verblüfft. Denn die Musikerin ist zu diesem Zeitpunkt schon Mutter eines kleinen Sohnes; das Gericht wird sie zu über einem Jahr Haft verurteilen. Dennoch erklärt sie sich mit klarer moralischer Bestimmtheit, ohne doppelten Boden. Zwölf Jahre später, im Jahr 1980, besingt sie in einem Lied über persönliche Gebote das eigene Bekenntnis: „Beim Versteckspiel sich zu zeigen, nie als andrer zu erscheinen.“
Wegners Lebensmaxime, ihre eigenen zehn Gebote, bilden die lose-assoziative Struktur des Films, der neben Archivmaterial und dem persönlichen Interview Proben für die Konzerttournee miteinander verknüpft. „Aufrecht stehen, wenn andere sitzen“ oder „Lauter schreien, wenn andere schweigen“ formulieren zentrale Punkte im Konflikt mit dem Regime; sie zeigen den inneren Widerspruch der DDR auf, an dem Wegner fast zerbrach. Einerseits mobilisierte der Staat den unbedingten Glauben an den Sozialismus und forderte doch zugleich eine Form des „Doppel-Denk“, ein inneres Exil. Wie ihre Eltern war Bettina Wegner eine überzeugte Sozialistin, doch die bruchlose Aufrichtigkeit ihrer Gefühle machte sie zum Störfaktor.
Ringen um die Kunstfreiheit
Wegner erinnert sich an ihre ersten Auftritte als junges Mädchen, als sie das Publikum zu Tränen rührte. Ein Moment, in dem sie nicht nur realisierte, dass sie singen kann, sondern auch, welche überwältigende Kraft in ihrer Stimme liegt. „Bettina“ gibt der Intensität von Wegners Gesang einen historischen Resonanzraum, der die Tragweite der DDR-Diktatur für ihr Selbstverständnis sichtbar macht.
Nach ausgesetzter Haft kämpfte Wegner mit der „Arbeit zur Bewährung“ in einer trostlosen Fabrik. Aufgrund des Verweises von der Schauspielschule musste sie ihr Abitur auf der Abendschule nachholen, um sich als Sängerin am Zentralen Studio für Unterhaltungskunst ausbilden lassen zu können. Mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Klaus Schlesinger, begründet sie Veranstaltungsreihen, zu denen das Publikum nicht nur kam, um Musik zu hören, sondern hauptsächlich für den freien Austausch, der Konzerte und Lesungen begleitete. Es dauert keine anderthalb Jahre, bis der Staat beides verbot. Als das Ehepaar sich 1976 öffentlich gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann stellt, werden die Einschränkungen der Arbeitsmöglichkeiten immer rigider.
Viele Freunde und Wegbegleiter nutzten die Möglichkeit, in den Westen zu gehen. Für Bettina Wegner war das aber bis zum Schluss keine Option. Auch das erklärt sich im Film durch ihren unbedingten Glauben an die notwendige Präsenz der Liedermacher in der DDR, verbunden mit dem tiefen Gefühl der eigenen Verwurzelung. Dieses Verhaftetsein im Osten, trotz aller Repression, resultierte aus einer Form von Menschlichkeit, die die DDR als ihre Heimat erleben ließ.
Die Kraft der Sprache
Vielleicht zeigt sich das auch in der Weise des Liederschreibens, nicht nur bei Wegner, sondern auch bei den anderen ehemaligen Mitgliedern des Oktoberklubs, dem Ausgangspunkt der „Singebewegung“ von 1966. „Sag mir, wo du stehst“ wurde zur Hymne folkbegeisterter Jugendlicher aus Ostdeutschland, die im Gegensatz zu den US-Vorbildern eine ganz eigene Form des Pathos und der Adressierung der Zuhörer fanden. Fast immer sind die Lieder an ein „Du“ gerichtet. Wegners Lieder berühren wohl auch heute noch so stark, weil sie von einem unerschütterten Vertrauen in die Kraft der Worte zeugen, an die kommunikativen Möglichkeiten der Sprache und ihre menschlich-verbindende Kraft.
Regisseur Lutz Pehnert konturiert dies nicht nur als biografische Besonderheit, sondern hebt es als historisches Phänomen der Liedermacher in der DDR hervor. In seinen Filmen hat er sich immer wieder mit der noch immer unzureichend erschlossenen Geschichte Ostdeutschlands auseinandergesetzt, darunter auch in der vielbeachteten Fernsehreihe „Berlin - Schicksalsjahre einer Stadt“. Das Gefühl für das Lokalkolorit trägt auch „Bettina“ und verleiht dem Film eine starke atmosphärische Kraft, die mit den lebhaften Erinnerungen der Sängerin in Resonanz tritt.