Der Vorspann ist vielversprechend, eine spielerische Hommage mit leicht theatralem Touch: Ein lebensgroßes Porträt des Künstlers Heinrich Vogeler entsteht im Drucker. Florian Lukas, der ihm seine Gestalt leiht, betrachtet den Ausdruck und verneigt sich davor. Kurze Clips mit Zitaten aus Vogelers Werken oder über ihn begleiten den Einstieg ins Leben des Malers, der um 1900 im deutschen Bürgertum so bekannt war, dass ihm seine Gemälde buchstäblich aus den Händen gerissen wurden, noch bevor die Farbe getrocknet war.
Vogeler war ein Glückskind. Eine Erbschaft ermöglichte dem Allround-Talent ein sorgenfreies Leben, zunächst mit Schwerpunkt auf präraffaelitischer Kunst, eine damals beliebte, von der Renaissance inspirierte Stilrichtung, in der Sagen- und Märchenmotive dominierten und die den Jugendstil beeinflusste. Vogelers erste wichtige Station war die Künstlerkolonie Worpswede, wo er im „Barkenhoff“, einer nach eigenen Entwürfen umgebauten Bauernkate, seine Vorstellungen vom Leben als Gesamtkunstwerk verwirklichen wollte.
Von Worpswede nach Moskau
Zu seinem Freundeskreis gehörten der Dichter Rainer Maria Rilke sowie der Maler Otto Modersohn und dessen spätere Frau Paula Becker. Vogeler wurde zum gefragten Multikünstler, der auch als Architekt, Designer und Buchillustrator reüssierte. Doch trotz seiner Erfolge blieb er ein Suchender, sich selbst und seiner Arbeit gegenüber äußerst kritisch. Der Erste Weltkrieg machte ihn zum Pazifisten und zum Anhänger der Arbeiterbewegung. Nach dem Scheitern seiner ersten Ehe zog er mit seiner späteren zweiten Ehefrau Sonja Marchlewska nach Moskau. Er änderte seinen Kunststil radikal und entwickelte die sogenannten „Komplexbilder“: collagenartige, in einer beinahe kristallinen Struktur gebaute Gemälde, die Unmengen von Szenen und Symbolen enthielten und häufig soziale Themen behandelten. Später näherte er sich dem „Sozialistischen Realismus“ an. Nach dem Eintritt der Sowjetunion in den Zweiten Weltkrieg wurde Vogeler verbannt und musste in Kasachstan Zwangsarbeit leisten. Dort starb er 1943.
Die Regisseurin Marie Noëlle macht aus dem bewegten Leben des vielseitigen Künstlers ein Kaleidoskop, in dem sich Geschichte und Gegenwart, Realität und Fiktion in überraschender Weise begegnen. Es geht um einen Kreativen in seiner Zeit, der sich ständig neu erfindet. Noëlle zeigt ihn als „Homo politicus“, als furchtlosen Künstler und Freigeist, der immer wieder aneckt.
Neben der Reflexion und Interpretation von Vogelers Werken und der Beschreibung seines abenteuerlichen Lebens steht die Bedeutung der Kunst für den gesellschaftlichen Diskurs im Fokus, und ihre Macht, Veränderungen zu bewirken. Damit spannt der Film den Bogen vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis heute und wirft Fragen auf, die an Aktualität und universeller Bedeutung nichts verloren haben: Was kann und was darf Kunst? Wie wird das künstlerische Leben durch äußere Umstände beeinflusst? Wer bestimmt, was Kunst und wer Künstler ist?
Im Wesentlichen chronologisch
Für die im Wesentlichen chronologische Handlung nutzt Noëlle eine Kommentar- sowie eine Erzählebene, in der sich unterschiedliche Phasen in Vogelers Leben und Schaffen spiegeln. Spielszenen zeigen Vogeler, der sich zu Beginn in Worpswede seinen privaten Traum erfüllt. Er schafft sich eine eigene Realität, in der er – unzeitgemäß in Biedermeier-Kleidung gewandet – gemeinsam mit seiner Frau Martha wie in einem präraffaelitischen Disneyland lebt. Mit Vogeler taucht der Film in die Worpsweder Kunstszene ein – eine Märchenszenerie, bevölkert von romantischen Männern, die sich wie Vogeler als Ritter verkleiden oder wie Rilke als Tatar. Die Kamera kreist manchmal übermütig um die Künstlertruppe und fängt das Lebensgefühl einer Epoche am Wendepunkt ein.
Zusätzlich vergegenwärtigen Originalfotos und Archivaufnahmen Vogelers Jahre in Worpswede. Auf der Kommentarebene wird Vogelers Schaffen analysiert und interpretiert. Vom Buchautor bis zur Psychoanalytikerin, vom Theaterwissenschaftler bis zur Urenkelin kommen dabei nicht nur ausgewiesene Kunsthistoriker zu Wort. Gelegentlich mischen sich die Kommentar- und die Erzählebene, wobei bisweilen sogar die Kontinuität von Zeit und Raum aufgehoben wird. So trifft eine moderne Künstlerin Auguste Rodin, und im Worpsweder Garten materialisieren sich Hologramme.
Was mit dem Porträt Vogelers und Florian Lukas anfängt, als Umgang mit dem lebensgroßen Porträt, wird zum Running Gag für die anderen Darsteller. Florian Lukas spielt Heinrich Vogeler als Träumer mit langsam schwindender Naivität, Johann von Bülow ist ein kraftvoller Rilke, Naomi Achternbusch spielt Paula Modersohn-Becker mit zauberhaft sehnsüchtiger Lebenslust und Anna Maria Mühe gibt Martha eine feine, leise Melancholie.
Protagonist der neuen Zeit
Marie Noëlle steuert die Interpretation zu einem großen Teil auch über Vogelers Werke. Die Kamera erforscht seine Gemälde mit analytischer Schärfe, schafft Sichtachsen und fährt über die Komplexbilder, bis sie optisch an die Collagen von John Heartfield erinnern. Heinrich Vogeler, der manische Verschönerer, entwickelte sich vom eskapistischen Romantiker und erklärten Liebling des Bürgertums zum Protagonisten einer neuen Zeit, dessen Schaffen unmittelbar mit seinem sozialen Bewusstsein verbunden war. „Meine Kunst ist tot, mein Leben ein Irrtum“, formuliert der alte Heinrich Vogeler. Das Dokudrama zeigt, wie lebendig und aktuell seine Kunst auch heute noch ist.