Coming-of-Age-Film | Österreich 2022 | 87 Minuten

Regie: Kurdwin Ayub

Drei Wiener Teenagerinnen machen ein YouTube-Video im Hijab, das vor allem unter kurdischen Muslimen ein kleiner Hit wird. Doch während die einzige des Trios, die selbst Muslima ist, sich von ihrer Herkunft zu distanzieren beginnt, gehen die beiden anderen in der fremden Kultur mehr und mehr auf. Der mit leichter Hand inszenierte Teenagerfilm belebt die Debatten, die unter dem Begriff Identitätspolitik geführt werden, mit Witz und Temperament, wobei Social-Media-Sphären und postmigrantische Lebensrealitäten ebenso einbezogen werden. - Sehenswert ab 14.
Zur Filmkritik Im Kino sehen

Filmdaten

Originaltitel
SONNE
Produktionsland
Österreich
Produktionsjahr
2022
Produktionsfirma
Ulrich Seidl Filmproduktion
Regie
Kurdwin Ayub
Buch
Kurdwin Ayub
Kamera
Enzo Brandner · Caroline Bobek
Schnitt
Roland Stöttinger
Darsteller
Melina Benli (Yesmin) · Law Wallner (Bella) · Maya Wopienka (Nati) · Margarethe Tiesel (Bellas Mutter) · Marlene Hauser (Marlene)
Länge
87 Minuten
Kinostart
01.12.2022
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Coming-of-Age-Film | Drama | Familienfilm
Externe Links
IMDb | TMDB

Heimkino

Verleih DVD
Neue Visionen
DVD kaufen

Teenagerfilm um drei Wienerinnen, die ein YouTube-Video im Hijab drehen, das vor allem unter kurdischen Muslimen ein kleiner Hit wird.

Diskussion

Um den Verlust der Religion geht es in dem R.E.M.-Hit eigentlich gar nicht, der in dem Spielfilmdebüt von Kurdwin Ayub Movens und Fixpunkt ist. „Losing My Religion“ ist ein alter Südstaatenausdruck und bedeutet so viel wie „die Nase voll haben“. In „Sonne“ kondensieren sich in der Songzeile dennoch die kulturellen Entfremdungs- und Selbstbefragungsprozesse, die die Protagonistin durchlebt. Yesmin ist Kurdin und trägt den Hijab. Ihre Wurzeln liegen im Irak, doch geboren wurde sie in Österreich. Gleich die erste Szene wirft mitten hinein in eine Realität, die immer schon medial mitgedacht wird. Yesmin und ihre Freundinnen Bella und Nati, die eine „Halbjugo“, die andere „Ösi“ durch und durch, posieren und twerken in den Hijabs von Yesmins Mutter und filmen sich dabei. Zu eben dem Song „Losing My Religion“ entsteht ein Musikvideo, das sich schnell zum kleinen YouTube-Hit entwickelt und unter jungen Frauen zahlreiche Nachahmerinnen findet. Der Text des Liedes erweist sich für die Figurendynamik als fast prophetisch: „That’s me in the corner, that’s me in the spotlight“, heißt es da. Aber auch: „You are not me.“

Mädchen mit Kopftuch

Im Gegensatz zu Yesmins Mutter, die sich in ihren religiösen Gefühlen verletzt sieht, reagiert Vater Omar mit Stolz auf den Erfolg der Tochter: „Die Kommentare sind wirklich schön.“ Er begleitet die drei Freundinnen zu kleineren Auftritten auf kurdischen Festen; einmal singen sie auch im muslimischen Zentrum. Im Fernsehen bekräftigen die Freundinnen ihre Botschaft, den existierenden Stereotypen andere Bilder entgegensetzen zu wollen: Bilder von starken jungen Frauen, die der Schleier nicht davon abhält, zu singen und zu tanzen und dabei Spaß zu haben. Wobei die blonde Nati auch hier schon am lautesten über „Mädchen mit Kopftuch“ spricht.

Mit der medialen Aufmerksamkeit verändern sich allmählich die Rollen und Zugehörigkeiten. Bella und Nati sind von der fremden Kultur angezogen, genießen ihr verändertes Selbstbild im Hijab („Ich hab’ mich noch nie so schiach und geil zugleich gefühlt“) und lästern gleichzeitig über die schwitzige Kopfbedeckung, als sei ihre Freundin gar nicht anwesend. Während sie mehr und mehr in die kurdische Kultur eintauchen, geht Yesmin auf Distanz. Die Bekanntschaft mit zwei kurdischen Männern verschärft die Konflikte. Sie kritisieren Yesmin für das Video, werfen ihr Respektlosigkeit vor – bis auch Nati Bedenken anmeldet, sie könnten zu weit gegangen sein. Mit dem plötzlichen Verschwinden der beiden spitzt die Regisseurin den Film in eine spekulative Richtung zu. Das damit eröffnete Themenfeld ist allerdings so groß, das Yesmins Figur darin fast verloren geht.

Kurdwin Ayub, selbst Tochter aus dem Irak stammender Kurden, bereichert mit „Sonne“ die Debatten, die unter den Begriffen Identitätspolitik und kulturelle Aneignung geführt werden, mit einem ebenso offenen wie verspielten Teenagerfilm. Sehr entschieden stellt sie Ambivalenz vor Eindeutigkeit. Vertikaler Content wie Instagram-Filter, WhatsApp-Chats und Handyvideos verwebt der Film mit leichter Hand in die postmigrantische Lebensrealität. Die Darsteller sind zum großen Teil Laien; Yesmins Vater und Mutter hat die Regisseurin mit ihren eigenen Eltern besetzt.

Toleranz und Anpassungsdruck

Auch in den häuslichen Szenen im Wohnblock in der Wiener Peripherie sucht der Film offensiv den Bruch mit den Stereotypen, etwa mit der patriarchalen Figur des Vaters. Omar hat für alles Verständnis und leiht sich von seiner Tochter auch mal die Wimperntusche aus, um die grauen Haare in seinen Bart zu tönen. Seine Toleranz ist aber auch Ergebnis eines Anpassungsdrucks. Als die Polizei eines Nachts aufkreuzt, weil Yesmins Bruder sich an einer auf Instagram geteilten Schlachtung beteiligt hat, fordert er von seiner protestierenden Frau Respekt vor dem „Staat“ ein.

Mühelos verbindet Ayub die verschiedensten Tonlagen, wechselt zwischen Ironie und Ernst, Social-Media-Spinnerei und emotionaler Erschütterung. Einmal erzählt Yesmins Mutter, wie sie im Krieg acht Jahre lang mit ihrer Familie im Keller gelebt hat, bevor sie flüchteten. Die Bilder der Gegenwart haben ihre Erinnerungen wieder hervorgeholt: „Es wiederholt sich, immer wieder, immer wieder.“ Manchmal wird es in „Sonne“ ganz still.

Kommentar verfassen

Kommentieren