Es ist ja nicht so, dass man nichts über Patricia Highsmith wüsste. Es gibt sehr viele Interviews und einige Fernsehporträts über ihre Jahre in Frankreich oder im Tessin. Es gibt Materialienbände, in denen Verächter (Raymond Chandler) wie Bewunderer (Wim Wenders, Peter Handke) ihrer Romane zu Wort kommen. Es gibt zudem zahlreiche Analysen der unterschiedlichen Verfilmungen ihrer Romane durch Filmschaffende wie Alfred Hitchcock, René Clément, Claude Chabrol, Wim Wenders, Hans W. Geissendörfer, Liliana Cavani, Anthony Minghella oder Todd Haynes.
Doch das Porträt „Loving Highsmith“ von Eva Vitija basiert auf der Lektüre der postum veröffentlichten „Tage- und Notizbücher“ der US-amerikanischen Autorin, die einen Blick in ihre Schreibwerkstatt und ihr wechselvolles Privat- und Liebesleben erlauben. Der Nachlass ermöglicht ein komplexeres Bild, das weit über die bislang populäre Anschauung der misanthropischen Einsiedlerin und Katzenliebhaberin hinausgeht, auch wenn schon kritisiert wurde, dass die postume Veröffentlichung die Texte um allerlei rassistische und antisemitische Ausfälle „bereinigt“ habe.
Tägliche Notizen in den „Cahiers“
Vitija hatte das filmische Schreiben Highsmiths zwar stets geliebt, aber sich nach der Lektüre der Tagebücher geradezu in die Autorin verliebt. Derart inspiriert rekonstruiert die Filmemacherin auf mehreren Ebenen die Biografie Highsmiths, die einer vom Alltagsrassismus geprägten texanischen Rinder- und Rodeo-Dynastie entstammte. Allerdings hatte sich ihre Mutter wenige Tage vor der Geburt vom leiblichen Vater Patricias scheiden lassen und das Kind in die Obhut der Großmutter gegeben, um in New York als Illustratorin zu arbeiten. Einige Jahre später holte sie die ungewollte Tochter nach, doch die Beziehung beider war zeitlebens mehr als schwierig.
Auf dem College entdeckte Highsmiths ihr schriftstellerisches Talent und ihre Neigung zu „creepy ideas“; erste Kurzgeschichten entstanden. Mit 17 Jahren begann sie, ihre Ideen und Reflexionen in „Cahiers“ genannten Notizbüchern festzuhalten, die neue oder zumindest andere Blicke auf das Oeuvre der US-Amerikanerin erlauben.
Damit kommt die zweite Bedeutungsebene des Filmtitels „Loving Highsmith“ ins Spiel: die Lieben der lesbischen Autorin, die zunächst in der queeren Subkultur New Yorks ausgelebt wurden. Gegenüber ihrer Familie hatte Highsmith ihre sexuelle Orientierung verheimlicht, ja, sogar versucht, sie qua Psychoanalyse zu „korrigieren“. Was aber fängt der Film „Loving Highsmith“ mit diesem Mehr-Wissen an?
Schreiben als Ersatz fürs Leben
Glanzvoll und bedeutsam für das hermeneutische Vorgehen sind die Anfangssequenzen des Films. Man sieht die bereits ältere Autorin an der Schreibmaschine, rauchend, während sie aus dem Off beschreibt, wie sie Einfälle gewichtet und ihnen, sofern sie etwas versprechen, nachgeht. Während sie weiterschreibt, werden aus dem Off ein paar Zeilen aus ihrem Debütroman „Strangers on a Train“ gelesen und zugleich die Bilder der Hitchcock-Verfilmung des Stoffes gezeigt. So weit, so konventionell.
Worum es wesentlich geht, weitet dann aber den Blick: „Gute Storys basieren ganz auf den Emotionen des Autors. Selbst wenn ein Spannungsroman von vorn bis hinten berechnet ist, wird es darin Szenen geben, die der Schreibende aus eigener Erfahrung kennt“, wird Highsmith zitiert. Dazu passt, dass Highsmith sich stets als Krimi-Autorin unterschätzt fühlte. Ihre Selbstaussage ist für den Film zentral: „Das Schreiben ist ein Ersatz für das Leben, das ich nicht leben kann, das mir verwehrt ist.“ Vitija nimmt dies nicht als Einladung für ein plattes Psychologisieren der Texte von Highsmith, sondern sie spürt eher den schmerzhaften Haarrissen in den Figuren nach, ihren Schattenseiten oder Potentialen. Woher rührt die coole Amoralität der Ripley-Figur? Worin besteht der Reiz, in eine andere Identität zu schlüpfen?
Prozesse des Identitätszerfalls
Der frühe Erfolg von „Strangers on a Train“ machte Highsmith finanziell unabhängig. Sie konnte fortan reisen, zwischen den Kontinenten pendeln. Ihren zweiten großen Erfolg „Salz und sein Preis“, eine lesbische Liebesgeschichte mit seinerzeit skandalösem Happy End, veröffentlichte sie aus Rücksicht auf ihre Familie unter Pseudonym. Erst Jahrzehnte später erschien der Roman unter ihrem eigenen Namen, jetzt unter dem Titel „Carol“.
Highsmith reüssierte mit Romanen, die die Abgründe bürgerlicher Wohlanständigkeit ausloteten. Wollte man „Highsmith-Country“ kartografieren, könnte man sagen: Es geht um das lustvolle Beobachten und Beschreiben von Prozessen des Identitätszerfalls, von Identitätswechseln und der Befreiung von einer Identität durch einen eher spontanen als mordlustigen Akt der Gewalt. Und um das fortwährende, improvisierende, nicht selten absurde Spiel mit den Folgen der Gewaltakte.
Nicht grundlos ist die Neuverfilmung von „Der talentierte Mr. Ripley“ (1999) durch Anthony Minghella ein Film voller Jazz! Das hat nicht nur damit zu tun, dass die saturierten Hipster in den 1950er-Jahren in Italien Jazz-Fans sind; der Film genießt es geradezu, Tom Ripley dabei zuzusehen, wie er sich von Situation zu Situation improvisiert und abmüht, das Heft des Handelns in die Hand zu bekommen. Homosexuelles Begehren, Klassenkampf und die Aufstiegssehnsüchte eines Mannes, der dazu gehören möchte, spielen ineinander.
Eine spannende Polyphonie
Derlei Spuren geht „Loving Highsmith“ mit Bedacht und mittels einer eleganten Montage nach, unterfüttert mit Filmszenen, Ausschnitten aus den Tage- und Notizbüchern, Interviews mit Highsmith selbst, mit Familienmitgliedern und ehemaligen Geliebten wie Marijane Meaker, Monique Buffet oder Tabea Blumenschein und verziert mit einer grandiosen Filmmusik von Noël Akchoté, Mary Halvorson und Bill Frisell. Das Ergebnis dieser Spurensuche ist eine eigentümliche, aber äußerst spannende Polyphonie, zumal Highsmith selbst mit keiner Verfilmung ihrer Stoffe wirklich zufrieden war, wie Pedro Almodóvar jüngst verriet. Das ist reichlich Stoff, um sich einmal mehr den Romanen von Highsmith zu widmen.