Die 9-jährige Ida (Rakel Lenora Fløttum) teilt sich mit ihrer älteren Schwester die Rückbank des Familienautos. Anna (Alva Brynsmo Ramstad) ist Autistin und gibt zwar stöhnende Laute von sich, kann sich ihrem Umfeld aber nicht mitteilen. Dass sie wegen ihres hilflosen Zustands mehr Aufmerksamkeit bekommt, entfacht in Ida Neid und Wut. Mit einem vorsichtigen Blick zu ihren Eltern versichert sich das Mädchen, unbeobachtet zu sein, bevor es seine Schwester mit sadistischem Eifer in den Oberschenkel kneift.
„The Innocents“ hält sich überwiegend in einer kindlichen Welt auf, die ihren eigenen Regeln folgt. Jenseits von der Kontrolle Erwachsener tritt dabei auch etwas Rohes und Finsteres hervor. Die im Titel erwähnte Unschuld meint in Eskil Vogts Arthouse-Gruselfilm weniger moralische Reinheit als ein neugieriges Erforschen, das auch vor Abgründen nicht zurückschreckt. Und anders als bei der Zaubertafel, auf der Anna ihr wildes Gekritzel jederzeit mit einem Hebel auslöschen kann, haben die Taten in der Wirklichkeit Konsequenzen.
Eine Siedlung wie ein brutalistisches Märchenschloss
Es sind Sommerferien. Mit ihren Eltern ziehen die beiden Schwestern in eine Plattenbausiedlung, die wie ein brutalistisches Märchenschloss aus einem bewaldeten Hügel wächst. Zunächst lebt Ida weiterhin ihren Zerstörungsdrang aus, versteckt Glasscherben im Schuh ihrer Schwester und zertritt genüsslich einen Regenwurm. In dem etwas älteren Ben (Sam Ashraf) findet sie einen Gleichgesinnten. Naivität, Spielfreude und Grausamkeit gehen dabei nahtlos ineinander über.
Fast unmerklich tritt ein fantastisches Element in die Handlung: Ben hat telekinetische Kräfte, mit denen er die Flugbahn eines Kieselsteins beeinflussen kann. Auch die kleine Aicha (Mina Yasmin Bremseth Asheim), die ebenfalls in der Nähe wohnt, hat übersinnliche Fähigkeiten. Mit Anna ist sie gedanklich auf magische Weise verbunden und bringt das ansonsten stumme Mädchen sogar zum Sprechen. Dass sie die empathischste von den vier Kindern ist, hat auch damit zu tun, dass sie den Schmerz Anderer in düsteren Visionen erlebt.
Es gibt Licht und Schatten in „The Innocents“. Wunder sind durch die übersinnlichen Kräfte ebenso möglich wie barbarische Taten. Der von anderen Kindern gemobbte Ben wird nicht nur zunehmend mächtiger, sondern nutzt seine Fähigkeiten auch für Vergeltung und Zerstörung. Ida wird dabei zur Schwellenfigur. Hat sie der Versuchung des Bösen zunächst noch nachgegeben, entwickelt sie langsam ein Gewissen. Die Darstellerin Rakel Lenora Fløttum verleiht ihrer Figur eine sonderbar einnehmende Leinwandpräsenz. Ihre Mimik ist reduziert, umfasst aber ein breites Ausdrucksspektrum. Während sie in einem Moment biestig ist, wirkt sie im nächsten schon wieder albern oder verletzlich.
Horror wächst aus dem Banalen
Der Horror von „The Innocents“ wächst aus dem Banalen. Gerade durch aus dem Alltag vertraute Verletzungen wie die Verwundung durch einen dicken Holzsplitter, der sich unter die Haut bohrt, oder durch kochendes Wasser, das eine Hand verbrüht, entfaltet Vogt ein subtiles Unwohlsein. Spezialeffekte gibt es im Film kaum. Der wahre Ursprung des Grauens ist die menschliche Psyche.
Was es mit den Superkräften auf sich hat, bleibt ein Geheimnis. Es scheint jedoch etwas mit der Wohnsiedlung zu tun zu haben, die so weitläufig, steril und oft menschenleer in Szene gesetzt ist, dass sie einem von Anfang an nicht geheuer ist. Die Innenräume sind in ein unheilvolles Halbdunkel getaucht, Vorhänge flattern im Wind und Menschen schauen ängstlich durch Türspalte. Auf dem Soundtrack sind dazu leise anschwellende Streicher und kindlich dissonante Xylophonklänge zu hören. Vogt hat ein gutes Gespür für Atmosphäre, strapaziert sein Schwelgen in dunkler Vorahnung aber in der ersten Hälfte des Films etwas über. Immer wieder zoomt die Kamera dabei in ewiger Erwartung langsam auf ernste Gesichter oder durch düstere Korridore.
Sobald die Bedrohung konkreter wird, die Fronten zwischen den Kindern sich verhärten und der Film sich stärker an klassischen Spannungsmomenten orientiert, entwickelt „The Innocents“ jedoch einen immer stärkeren Sog. Dabei gelingen ihm auch sehr unheimliche Momente, in denen, ganz seinem alltäglichen Grauen entsprechend, das Vertraute zur Bedrohung wird. Wenn Ben die Fähigkeit entwickelt, Menschen wie Marionetten zu steuern, potenziert sich die kindliche Verlorenheit ins Unermessliche. Dann breitet sich die lähmende Angst aus, dass selbst der Geborgenheit verheißende Schoß der eigenen Mutter zur Todesfalle werden kann.