The Lost Leonardo
Dokumentarfilm | Dänemark/Frankreich 2021 | 100 Minuten
Regie: Andreas Koefoed
Filmdaten
- Originaltitel
- THE LOST LEONARDO
- Produktionsland
- Dänemark/Frankreich
- Produktionsjahr
- 2021
- Produktionsfirma
- Elk Film/Mantaray Film/Pumpernickel Films
- Regie
- Andreas Koefoed
- Buch
- Andreas Dalsgaard · Christian Kirk Muff · Andreas Koefoed · Mark Monroe · Duska Zagorac
- Kamera
- Adam Jandrup
- Musik
- Sveinung Nygaard
- Schnitt
- Nicolás Nørgaard Staffolani
- Länge
- 100 Minuten
- Kinostart
- 23.12.2021
- Fsk
- ab 0; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 14.
- Genre
- Dokumentarfilm
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Wie ein unbekanntes Gemälde von Leonardo da Vinci zum teuersten Kunstwerk der Welt wurde und was das über das Verhältnis der Menschen zu sich und der Welt verrät.
Die Geschichte des Gemäldes „Salvator Mundi“ hat sich in den letzten 15 Jahren zu einem spannenden Krimi, aber auch einer abgründigen Farce entwickelt. Sie beginnt in New Orleans, wo Alexander Parish 2005 in einem Auktionskatalog auf ein Gemälde stößt, das als „Kopie nach Leonardo“ deklariert ist. Könnte dieses Bild ein „Schläfer“ sein und möglicherweise aus der Werkstatt von Leonardo da Vinci stammen? Parish kauft das Bild gemeinsam mit dem Kunsthändler Robert Simon für 1.150 Dollar: ein Porträt von Jesus Christus, der in der linken Hand eine Kristallkugel hält und die rechte Hand zum Segen erhebt. Die Kunstrestauratorin Dianne Modestini soll das Bild aufarbeiten. Dabei stechen der Restauratorin mehrere Merkwürdigkeiten ins Auge. So befinden sich unter den Originalmalereien Spuren vorheriger Entwürfe, sogenannte „Pentamenti“, was für eine Kopie ziemlich ungewöhnlich ist. Noch entscheidender ist eine Eigenheit, die Modestini nur von Leonardo da Vinci kennt. Handelt es sich bei dem Bild womöglich um einen echten Leonardo?
Der geheimnisvolle Bieter aus Saudi-Arabien
Die dann folgenden Ereignisse sind geprägt von Nachforschungen und ständigen Preiserhöhungen, gelegentlich veredelt durch einen Hauch von Romantik. Etwa, wie das Bild in einem Müllsack durch New York getragen wurde und 2008 – nun in einem Holzkoffer – nach London gelangte, wo mehrere Experten das Werk für echt erklärten. 2011 wurde es zum glanzvollen Höhepunkt der Leonardo-da-Vinci-Ausstellung in der National Gallery in London und erzielte beim Weiterverkauf an den Schweizer Geschäftsmann Yves Bouvier einen Preis von 83 Millionen US-Dollar. Ein russischer Oligarch wurde der nächste Eigentümer – für 127,5 Millionen Dollar. 2017 folgte die legendäre Versteigerung bei Christie’s: Das Hämmerchen fiel bei 400 Millionen Dollar, der höchste jemals erzielte Preis für ein Kunstwerk. Den Zuschlag erhielt ein geheimer Bieter. Später enthüllte die New York Times, dass es sich dabei um Mohamad bin Salman, den Kronprinzen von Saudi-Arabien, gehandelt habe. Eine Präsentation des Gemäldes im Louvre wurde 2019 in letzter Minute abgesagt.
Dem Filmemacher Andreas Koefoed gelingt es in „The Lost Leonardo“, die meisten der Akteure dieser unglaublichen Geschichte vor die Kamera zu holen. Dazu gehört insbesondere Dianne Modestini, die zur tragischen Heldin der Geschichte wird. Sie hat wahrscheinlich die engste emotionale Verbindung zu dem Bild und keinerlei materielle Interessen. Ihr Gegenpol ist der geschäftstüchtige Yves Bouvier. Auch die beiden „Entdecker“ Alexander Parish und Robert Simon kommen zu Wort. Außerdem viele Kunstexperten und -kritiker, Kuratoren, Enthüllungsjournalisten, zwei Ermittler der Polizei und ein auf Kunstfinanzierungen spezialisierter Banker – Gewinner und Verlierer, so wie der ehemalige Kurator der National Gallery, dem sein Vorgehen im Nachhinein ziemlich unangenehm ist.
Koefoed gelingt es souverän, das gebündelte Wissen, die Erfahrungen und Erkenntnisse seiner Gesprächspartner zu den oft komplizierten Vorgängen verständlich aufzubereiten. Die Einteilung in drei Kapitel verdeutlicht die Zielrichtung des Films: „The Art Game (Das Kunstspiel)“, „The Money Game (Das Geldspiel)“ und „The Global Game (Das globale Spiel)“. Die mutige Montage des Editors Nicolas Staffolani Nørregard erlaubt schnelle Perspektivwechsel und macht den Film extrem unterhaltsam. Die Bildsprache ist in Maßen effektvoll, mit angenehmen Tempowechseln. Gelegentliche Zeitlupen, Detailaufnahmen, Drohnenbilder sowie schnelle Änderungen des Schauplatzes sorgen für Abwechslung und für visuellen Thrill. Die Musik hält eine angemessene Balance zwischen Krimi, Drama und Komödie.
Die Heuchelei einer zynischen Welt
Die Struktur von „The Lost Leonardo“ ist sehr durchdacht. Zunächst liefern kurze, schnelle Interviews mit Talking Heads und nachgestellte Bilder sowie Originalaufnahmen die notwendigen Informationen; in weiteren Interviews werden die bis dahin erzielten Ergebnisse mit anderen Gesprächspartnern untermauert oder konterkariert, woraus sich neue Thesen und Themen entwickeln, bis am Ende die Schlussfolgerungen deutlich werden.
Im Fokus des Films steht das Gemälde, doch es geht nicht um das Werk und auch nicht um die Kunst, sondern einzig und allein ums Geld, also letztlich um Heuchelei in einer zynischen Welt, in der nur die Macht des Geldes zählt.
Der Film von Andreas Koefoed ist schlicht grandios. Das bezieht sich neben Informationswert, Rechercheaufwand und gedanklicher Tiefe auch darauf, dass „The Lost Leonardo“ beste Unterhaltung und viel Gesprächsstoff bietet. Die Frage, ob das Gemälde echt ist oder nicht, ob es von da Vinci persönlich gemalt, bearbeitet oder auch nur betrachtet wurde, ist letztlich zweitrangig. Koefoed zeichnet vielmehr die Verflechtungen des globalen Kunstmarkts nach und bezieht daraus den Stoff für einen intensiven Diskurs, der spannende Fragen aufwirft: Wer bestimmt den Marktwert von Kunst? Welchen Rang hat Kunst in der öffentlichen Wahrnehmung? Was ist überhaupt Kunst? Und wem gehört sie?
Tatsächlich wird Kunst systematisch gehortet. Kunstobjekte eignen sich zur Geldwäsche, zur Steuerhinterziehung und zur Verschleierung diverser Geschäfte. Der Werdegang eines alten, ziemlich heruntergekommenen Gemäldes von einem unbeachteten Porträt zum Gegenstand weltweiten Interesses ist nicht nur abenteuerlich, sondern er stellt eine pervertierte Geschäftswelt bloß, die sich im Kunstmarkt in ihrer vielleicht reinsten Form präsentiert – Kapitalismus in Vollendung.
Ein anderer wichtiger Aspekt, den Koefoed anspricht, ist die Imagefrage, das Marketing. Ein Bild, das Leonardo da Vinci zugesprochen wird, verfügt über einen hohen ideellen Wert, der den materiellen bei Weitem übertrifft. Koefoed zeigt auf, wie das Auktionshaus Christie’s das Gemälde vor der Versteigerung in einer weltweiten Kampagne zur „männlichen Mona Lisa“ hochstilisierte und damit ein neues Image erschuf. Der Film schlägt den Bogen von der Kampagne zur Zusammenarbeit zwischen dem saudi-arabischen Kronprinzen und der französischen Regierung. Das passende Stichwort dafür lautet „Whitewashing“. Denn Mohamad bin Salman hätte das Gemälde als großzügige Leihgabe beinahe dem Louvre überlassen – eine gute Gelegenheit, sich als weltläufiger, toleranter Staatsmann zu gerieren und seinen üblen Ruf aufzupolieren.
Im gleichen Raum wie die „Mona Lisa“
Das Vorhaben scheiterte letztlich wohl daran, dass bin Salman darauf bestand, dass „sein“ Bild im gleichen Raum wie die „Mona Lisa“ gezeigt werden sollte. Das lehnte der Louvre ab, woraufhin das Gemälde kurz vor dem Start der Ausstellung zurückgezogen wurde. Seitdem ist es verschwunden. Möglicherweise wird es eines Tages in einer Art arabisches Disneyland der Weltöffentlichkeit präsentiert. Vielleicht gibt es aber dereinst auch eine Übereinkunft, dass der Film von Andreas Koefoed ein größeres Kunstwerk darstellt als die 500 Jahre alte Tafel aus Walnussholz mit dem Jesus-Christus-Porträt. Wer weiß?