Die eigene Kindheit wird, sofern sie glücklich war, von Menschen gerne idealisiert. Je älter man wird, desto glanzvoller erscheint die Zeit, in der das Leben noch vor einem lag und die Welt darauf wartete, entdeckt zu werden. Doch wie geht man als Filmemacher mit einer Kindheit um, die behütet begann, dann aber in den Sog einer gewaltsamen Geschichte geriet? Vor 35 Jahren versuchte sich John Boorman in seinem autobiografisch gefärbten Film „Hope and Glory“ an der Darstellung einer Kindheit in Großbritannien während des Zweiten Weltkriegs und nahm dabei konsequent die Perspektive seines 10-jährigen Protagonisten ein.
Eine ähnliche Herangehensweise wagt Kenneth Branagh (Jahrgang 1960) in seinem bislang wohl persönlichsten und ebenfalls autobiografisch inspirierten Film. Der Name ist Programm. „Belfast“ spielt ausschließlich in der nordirischen Großstadt, die ab 1969 zum Hauptschauplatz der sogenannten „Troubles“, der kriegsähnlichen Auseinandersetzungen zwischen Katholiken und Protestanten, geriet.
Noch spielen die Kinder
Im Vorspann filmt Branagh zu den Klängen eines Songs von Van Morrison seine Geburtsstadt in ihrer heutigen Form aus der Panorama-Perspektive in Farbe. Danach taucht die Kamera in die Straße einer typisch britischen Reihenhaussiedlung ein – und die Bilder verwandeln sich in nostalgisches Schwarz-weiß. Ein Spiel von Kindern, die mit Schilden in Form von Mülltonnendeckeln und Holzschwertern ausgestattet sind, wird jäh unterbrochen. Denn auf einmal kehrt die Gewalt in die bis dahin so einträchtige Wohneinheit ein. Militante Protestanten greifen katholische Familien in ihren Häusern an. Panisch sammeln die Mütter ihre Kinder von der Straße und verbarrikadieren sich in ihren Wohnungen.
Einen Tag später bestimmen Aufräumarbeiten die vandalisierte Straße. An ihrem offenen Ende wird eine Barrikade mit Stacheldraht errichtet, andernorts rollen Panzer. Von nun an sortieren die radikalen Verfechter von pro-britischen Protestantenmilizen und pro-irischen Katholikenverbänden die Bewohner der Stadt in Schubladen. Man ist entweder Protestant oder Katholik; und wer nicht für das vermeintlich eigene Lager ist, wird zum Verräter erklärt.
Auch der neunjährige Buddy, das filmische Alter Ego von Branagh, muss sich von heute auf morgen in diese Situation hineinfinden. Bis dato spielte seine Religionszugehörigkeit – die Familie ist protestantisch – keine Rolle. Buddy (erfrischend: Jude Hill) wächst mit Eltern (Jamie Dornan, Caitriona Balfe), einem großen Bruder und den Großeltern (Ciarán Hinds, Judi Dench) auf.
Im Ton direkt, aber liebevoll
Der Ton in der Familie ist direkt, aber liebevoll. Doch die Gefahr von außen ist allgegenwärtig. Regelmäßig versuchen Loyalisten, Buddys Vater einzuschüchtern und Schutzgeld zu erpressen. Doch für den humanistisch gesinnten Vater zählt allein der Schutz seiner Familie. Unter der Woche arbeitet der Tischler in England, um die Familie zu ernähren. Jetzt müssen die Eltern abwägen: Sollen sie in Belfast bleiben, der einzigen Stadt, in der sie je gelebt haben? Oder müssen sie fortziehen, um den Kindern ein Leben in größerem Wohlstand und vor allem in Sicherheit zu ermöglichen?
Kenneth Branagh ist im gleichen Alter wie sein kindlicher Held mit seiner Familie nach England ausgewandert, um den „Troubles“ zu entkommen. Doch sein Herz schlägt bis heute für seine Heimatstadt und deren Einwohner. Das macht er mit dieser liebevollen Hommage an Belfast überdeutlich. Besonders politisch ist sein Blick allerdings nicht. Branagh filmt die nordirische Hauptstadt fast ausschließlich durch die Augen des staunenden Buddy. Dieser muss sich in den veränderten Gegebenheiten zurechtfinden. Das gelingt ihm mit der Unbeschwertheit und Naivität des Kindes, das niemandem Böses will und politische Zusammenhänge noch nicht begreift. So schwärmt er für eine katholische Mitschülerin, die ihm die Position des Klassenbesten streitig macht – abwechselnd sitzen sie in der ersten Reihe.
„Belfast“ vermittelt das Bild einer eingeschworenen familiären und nachbarschaftlichen Gemeinschaft und ordnet das Ganze zeit- und kulturgeschichtlich ein. Man schaut zusammen „Star Trek“ im Fernsehen (und durchaus symbolisch auch „12 Uhr mittags“) oder lässt sich auf der großen Leinwand von Raquel Welch bezaubern. Nach verstörenden Kirchenbesuchen erdet die Familie den Jungen, und der gebrechliche Opa gibt ihm im Krankenhaus noch Lebensweisheiten mit auf den Weg. Branagh zeichnet das Bild eines aufrechten Arbeitermilieus, das zwar Finanzsorgen und Bagatelldelikte kennt, wo man Streit jedoch in der Nachbarschaft löst. In diesen Mikrokosmos bricht dann der Konflikt ein. Plötzlich wird die Herkunft zum Politikum; und der eine oder andere radikalisiert sich tatsächlich. Branagh zeigt auch, was ein Mob anrichten kann, etwa, wenn sogar Kinder angestachelt werden, ein Geschäft zu plündern. Gelegentlich gelingen Branagh beklemmende Momente, in denen man die Eskalation sinnloser und brachialer Gewalt spürt.
Richtig weh tut der Film nicht
Doch richtig weh tut der Film nicht. Er ist versöhnlich, gekleidet ins Gewand eines Feel-Good-Movies, wie so oft bei Branagh. Wenn man ihm nicht gesonnen ist, könnte man dem Film die Verharmlosung eines komplexen Themas vorwerfen, und dass er sich, bevor es zu brenzlig wird, in die Schilderung von Atmosphärischem und Heiterem flüchtet. Dennoch spürt man bei Branagh den Versuch, eine Kindheit zu rehabilitieren. Womöglich ist die Sicht des Jungen die einzig richtige, denn Kinder nehmen es sich heraus, auch in kriegerischen Zeiten ihr Leben spielerisch zu erkunden und zu genießen. Außerdem ist der Film aktueller denn je, wenn man an den jüngst begangenen 50. Gedenktag des Massakers am „Bloody Sunday“ in Derry denkt oder daran, wie der Brexit den fragilen, aber seit über 20 Jahren währenden Frieden wieder zu gefährden droht.
Gewidmet ist der Film „jenen, die geblieben sind, jenen, die weggegangen sind und jenen, die wir verloren haben“. Angesichts einer kaum lösbaren politischen Lage optiert der Regisseur für das Private. Es ist nachvollziehbar, dass man seine Familie in einem Konflikt, dem Tausende zum Opfer fielen, schützen will. Deshalb lautet das Motto, das der Vater seinem Sohn mit auf den Weg gibt, dann auch: „Sei brav. Und wenn du nicht brav sein kannst, sei vorsichtig.“