Wenn man Grippe hat, bleibt man besser daheim. Das war eigentlich auch schon vor der jüngsten Pandemie klar. Wer noch mehr Überzeugungsarbeit benötigt, kann sich „Petrov’s Flu“ von Kirill Serebrennikow ansehen, wobei ob des aberwitzig springenden Rhythmus des Films davon abzuraten ist, sich diese virtuos gedrehte, vor kritischer Wut schäumende russische Gesellschaftsstudie fiebrig anzusehen. Die Temperatur dürfte nur steigen.
Die titelgebende Familie Petrov hat es in sich. Die Mutter ist Bibliothekarin, die sich während ihrer Dienstzeit in aufregende sexuelle Fantasien stürzt. Noch wilder wird es, wenn sie mit Blut oder aggressiven Männern konfrontiert wird, dann nämlich färben sich ihre Augen pechschwarz und sie beginnt auf die Herren einzuprügeln oder sie zigfach abzustechen. Zumindest bildet sie sich das ein oder wir bilden uns das ein. Selbst ihrem jungen Sohn schneidet sie in einer solchen Vision durch den Hals. Dieser versteckt sich ohnehin am liebsten unter der Decke, wo er sich in Videospiele flüchtet. Allerdings plagt auch ihn hohes Fieber.
Vater Petrov ergeht es nicht viel besser. Zwischen seinen Hustenanfällen besäuft er sich in Leichenwägen, erschießt Unbekannte auf der Straße, beobachtet ein unheimlich von selbst klapperndes künstliches Gebiss, kommuniziert mit Außerirdischen oder hilft einem Schriftstellerfreund emotionslos beim Selbstmord. Was die nicht gerade funktionale Familie eint, ist eine zähe Grippe und der mit ihr verbundene Zustand bestimmt letztlich jedes aus den üblichen Fugen realistischen Kinos fallende Bild.
Aus Unerträglichkeit geborener Zorn
Der vom tschechischen Schriftsteller Bohumil Hrabal geprägte Begriff der „Bafler“ kommt einem in den Sinn, wenn man die zwischenmenschlichen Begegnungen in „Petrov’s Flu“ beschreiben will. Ein konstantes Palavern, in die kalte Luft geschriene Worte und Flüche, die das Leben bereichern, es überhaupt weitergehen lassen, aber letztlich in ein tiefes, absurdes Nichts führen. Nur von Hrabals Humanismus ist Serebrennikow weit entfernt. Sein Antrieb ist ein aus der wahnsinnigen Unerträglichkeit geborener Zorn.
Bereits Alexej Salnikows literarische Vorlage aus dem Jahr 2017 ist ein irrer, schwarzhumoriger Trip. Die Zeitzonen überlagern sich im Roman wie im Film. Erinnerungen, Herbeifantasiertes, Traumata, die sowjetische Vergangenheit, die russische Gegenwart. Alles verklebt sich zu einer undurchdringbaren, aber mitreißend wabernden Masse. Eines wird klar: Es brennt. Alle gehen aufeinander los. Man könnte von einem überall schimmelnden Sittengemälde sprechen. Mit Metaphern ist man ohnehin nicht weit vom Kern des Unterfangens, denn man spürt, dass jedes Bild auf ein anderes verweisen könnte, eines, das man vielleicht nicht schreiben oder drehen durfte oder konnte.
Was Serebrennikow, der in den vergangenen Jahren zu einer Art Märtyrer der restriktiven Kulturpolitik Russlands wurde, filmisch hinzufügt, sind die haptischen Marker der Schäbigkeit: wackelnde Lampen (ständig flirrendes, an- und ausgehendes Licht), Düsterkeit, verschmierte, verdreckte Flächen, verkümmerte Räume, eingefangen mit einer sich durch das unübersichtliche Chaos kämpfenden Kamera. Dazu eine rotzige Vulgarität, fließender Alkohol, ein Verderben, das sich als fluchender Rauschzustand durch den unbarmherzigen russischen Winter gräbt.
Das ist zunächst einmal eine intensive Erfahrung und man wird leicht überwältigt von der schieren Dichte des Films, die durchaus an russische Regiegrößen wie Alexej Balabanow oder Alexej German erinnert. Je länger man dem Treiben zusieht, desto mehr drängen sich jedoch Fragen auf nach dem Sinn des Ganzen. Was sehen wir hier?
Ein Film über einstürzende Gewissheiten
Eine einfache Antwort wäre, dass „Petrov’s Flu“ die russische Gesellschaft als Bewohner einer an Dante gemahnenden Hölle zeigt. In dieser von Lügen und Gewalt dominierten Welt fällt es den erkrankten Bewohnern zunehmend schwer, zwischen Wirklichkeit und Vorstellung zu unterscheiden. Sie flüchten sich vor der Unerträglichkeit der Existenz, doch statt in irgendwelche harmonischen Höhen aufzusteigen, zieht es sie nur weiter in die Tiefe.
Diese Sache mit den eingebildeten Wirklichkeiten ist nun wahrlich eine überstrapazierte im Kino, egal ob sie politisch motiviert ist oder nicht. Was den Film abhebt, ist, dass er in seiner Atemlosigkeit kaum unterscheidet zwischen verschiedenen Realitätsebenen. „Petrov’s Flu“ ist kein Film über Fantasie und Wirklichkeit, es ist ein Film über einstürzende Gewissheiten.
Ob man Erinnerungen sieht oder Gegenwärtiges oder Ereignisse, die der Fiktion angehören, ist auch für den Zuschauer nicht mehr zu unterscheiden. Das liegt auch an der ungewöhnlichen Mischung aus hartem Realismus und choreographischer Inszenierung. Manchmal tanzen die Figuren fast in ihrem Stolpern. Die Kamera folgt ihnen dabei, und geschnitten wird nur äußerst selten. In diesem Sinn schließt Serebrennikow an sein musikalisches Interesse aus anderen Filmen an und erzeugt einen merkwürdigen Effekt, den man als Zusammenhang des Unzusammenhängenden beschreiben könnte. Die disparaten Elemente des Films verbinden sich zu einem großen Urton der russischen Seele.
Aber kann man das so sagen? Filme wie „Petrov’s Flu“ werden gerne als Beschreibung eines wie auch immer gearteten russischen Zustands gelesen, vor allem im Westen. Die Figuren sind keine individuell gezeichneten Charaktere, sie sind erstmal Russen und als solche haben sie sich vor dem wachsamen Auge des Zuschauers zu behaupten. Ein Sexist im Bus ist ein Russe, ein Rassist Beweis für eine gesellschaftliche Fremdenfeindlichkeit und so weiter. Das gilt nochmal besonders in einer Zeit, in der dieses Land einen unverzeihlichen Angriffskrieg führt.
Das Abgründige als Zustandsbeschreibung
Gleichzeitig reduziert eine solche Art und Weise, auf einen Film zu blicken, die möglichen Erfahrungen. Erschwerend kommt hinzu, dass Serebrennikow sehr wohl zu kalkulieren scheint mit dem, was der Westen in einem solchen Film sieht. Das Vage, Unausgesprochene schielt auf Bedeutungsschwere. Das Abgründige, Widerliche versteht sich als Zustandsbeschreibung. Der gleichzeitig entstandene „Abteil Nr. 6“ des finnischen Filmemachers Juho Kuosmanen spielt ebenfalls in Russland und zeigte ein anderes, ambivalenteres Bild des Landes. Was auf den ersten Blick problematischer wirkt, hinterfragt in Wahrheit auch die vorprogrammierten, propagandistischen Einwände der Regierung. Je grausamer das Land in kritischen Filmen gezeigt wird, die auf großen westlichen Festivals präsentiert werden, desto einfacher lässt sich sagen, dass der böse Westen auf Russland herabblicke.
Serebrennikow hat natürlich trotzdem und als Russe sogar ganz besonders das Recht, sein Land als unter Strom stehende, implodierende Druckkapsel zu zeigen. Seine Beharrlichkeit etablierte ihn zu Recht als eine der wichtigsten künstlerisch-politischen Stimmen seines Landes und allein seine Arbeit würde ausreichen zu beweisen, dass es notwendig ist, nicht alle russischen Stimmen zu unterdrücken. Selbstredend hängt „Petrov’s Flu“ irgendwie auch mit der pandemischen Erfahrung zusammen. Er bewegt sich sozusagen in den Gedärmen der großen Themen der letzten Jahre. Aus dieser Nähe ist noch nicht viel zu erkennen, aber ein Gefühl wird festgehalten und geäußert, und das, man kennt es von jeder Grippe, ist besser, als den ganzen Schleim im Körper zu behalten.