„Lang lebe das neue Fleisch“, heißt es bei David Cronenberg. Die Losung, die am Ende von „Videodrome“ steht, ist zentral für sein Filmschaffen, in dem der menschliche Körper mit der von ihm geschaffenen Technologie kollidiert und verschmilzt; in Schmerz und Ekstase. „Titane“ von Julia Ducournau macht es ihm nach.
Man sieht Alexia (Agathe Rousselle) zunächst tanzend auf einem Auto. Begafft von den Zuschauern einer Automesse, reibt sie sich an dem Boliden, der in diesem Moment ihr gesamtes Universum darstellt. Unter der Dusche bleibt sie ganz bei sich, ignoriert die neue Kollegin, die sie kennenlernen möchte; verfängt sich aber kurz darauf mit den Haaren in deren Brustwarzen-Piercing. Das Metall übt eine magische Anziehungskraft auf Alexias Körper aus, der seit einem Unfall in der Kindheit selbst einen metallischen Teil, eine Titanplatte im Kopf, in sich trägt.
Die Zunge im Hals, die Haarnadel im Ohr
Die Frau mit dem Piercing interessiert Alexia so wenig wie der Mann auf dem Parkplatz, ein Fan. Die Tänzerin lässt er, die Kollegin dann ihn stehen. Die Kollegin bleibt zurück, der Fan lässt sich nicht abschütteln. Alexia rennt, er folgt. Sie erreicht das rettende Auto, er gibt nicht auf. Sie schraubt das Fenster für ihn herunter, er verlangt ein Autogramm. Sie gibt es ihm, er will mehr. Er steckt seine Zunge in ihren Hals, sie ihre Haarnadel in sein Ohr.
Die massiv überzogene Notwehr bleibt nicht die letzte Tötung – und ist als plötzliche und unerwartete Gewalteruption auch nicht unbedingt ein singuläres Moment in diesem Film. Denn Ducournau ist in diesen Momenten stets bereit, ungebremst gegen und durch die Wand zu fahren.
Das buchstäbliche Beispiel dafür gibt der Prolog des Films. Alexia sitzt als Kind auf dem Rücksitz und nervt den Vater mit ihrer Motorimitation. Er dreht das Radio lauter, sie hebt die Stimme. Als das Radio zu laut wird, geht sie dazu über, seinen Sitz zu treten. Der dreht sich, um seinen Zorn abzuladen, der Wagen kracht in die Leitplanke, Alexias Schädel gegen die Scheibe. Mit dem traumatischen Unfall ist der Prolog jedoch nicht abgeschlossen. Es geht weiter. Alexia verlässt mit Titanplatte im Schädel das Krankenhaus, umarmt dabei nicht den Vater oder die Mutter, sondern den Unfallwagen. Es geht weiter. In die gleiche Richtung. Ob mit Metall im Schädel, Haar im Piercing oder der Leiche eines übergriffigen Fans auf dem Rücksitz: Alexia flüchtet frontal durch jeden hindurch, der ihr zu nahekommt.
Aus Alexia wird Adrien
Die groteske Mordserie, die sich daraus ergibt, findet ein schnelles Ende, als die halbe Region nach Alexia fahndet. Ihre letzte Hoffnung: das Porträt eines seit Jahren vermissten Jungen. Mit konsequenter Selbstverstümmelung verwandelt sich Alexia in Adrien, eben diesen Jungen. Die Nase wird gebrochen, die Haare werden rasiert, die moderne, unaufhaltbare Automesse-Tänzerin wird zum schlaksigen, stummen Sohn. Anders gesagt: Aus der aggressiven Weiblichkeit, die mit der Haarnadel in der Hand die Welt heimsucht, wird eine stumme Männlichkeit, die sich unter der Decke verkriecht.
Ihr Gegenüber besteht nun in Adriens Vater. Vincent Lindon ist dieser Vater. Ein Feuerwehr-Kapitän und ein Wrack von einem Mann, der seinen Körper mit eisernem Willen, Aminosäuren und Steroiden noch immer für ein paar Klimmzüge über die Stange zu wuchten versucht. Nie sind es genug. Immer wieder klatscht er auf den Boden der Tatsachen zurück; er bleibt der gebrochene Vater, der seinen Sohn verloren hat. Stumm und möglichst verhüllt platzt Alexia in diese vom Trauma zerschlagene und mit Hormonspritzen notdürftig zusammengehaltene Existenz hinein. Nicht als sie selbst, sondern als Adrien.
So steht zwischen den jungen, austrainierten Feuerwehrleuten, die ihren Kapitän auf dem Schild tragen wie einen Halbgott, das stumme, verlorene Söhnchen. Eine elektrisierende Mischung aus Identitäten, wie sich in Berufs- und Privatleben bald herausstellt. Auf die gefährlichen Brandschutz- und Lebensrettungseinsätze folgen Partys mit den Kameraden und mit dem Vater. Momente, die geradezu utopisch wirken, weil sie eine gemeinsame Sprache möglich machen. Für einen Tanz sind Vater und Sohn in perfekter Harmonie vereint und das entscheidende „Detail“ ist vergessen. Denn Alexia verbirgt nicht nur ihr Geschlecht unter dem aus Klopapier und Leinen notdürftig zusammengeschnürten Korsett, sondern auch ihre Schwangerschaft. Ihre Brustwarzen, ihre Vagina und der immer weiterwachsende Bauch triefen vor Motoröl – ja, Motoröl. Der Einzige, der als Vater in Frage kommt, ohne in Frage kommen zu können, ist ihr letzter sexueller Kontakt: ein Auto.
Ein Fetisch für Blech und Maschinen
Damit schlägt Ducournau nicht nur einen weiteren Bogen zu Cronenberg und dessen Film „Crash“, in dem ein Autounfall und die damit einhergehende Kollision von Fleisch und Metall zur Quelle sexueller Ekstase wird. Vielmehr setzt die Regisseurin das konsequente Spiel mit sexuellen Spannungen fort, die dort aufblühen, wo sie nichts verloren haben. Nicht allein der Fetisch für Blech und Maschine greift hier weit über alle Grenzen hinaus. Auch die Beziehungen und Kameradschaften, in die Alexia an Vincents Seite wieder und wieder gestoßen wird, unterwandert sie, wie von ihrer alten Identität eingeholt, mit sexueller Energie.
„Titane“ weigert sich beharrlich, die Szenen, in denen sexuelle und geschlechtliche Tabus sanft überwunden oder hemmungslos zerschmettert werden – oder überhaupt irgendetwas –, entlang aktueller Diskurs- oder klassischer Plotlinien auszurichten. Die gewaltige Schlagkraft, die hinter den blutigen, betörenden und immer ekstatischen Motiven steckt, folgt nur dem Affekt, in dessen Bahnen sich Ducournau von einer Übersteuerung in die nächste hangelt.
So rauschhaft und absurd das auch vonstattengeht, verliert der Film dabei nie seine emotionale Aufrichtigkeit. Das beste Beispiel dafür ist Vincents Vaterliebe, die ihn nicht nur als havarierte Männlichkeitsikone wieder aufrichtet, sondern ihn auch – scheinbar untrennbar – an seinen „Sohn“ bindet. Eine gelebte Unmöglichkeit, denn natürlich ist dieser Sohn eigentlich Alexia, also eine geflohene Mörderin, die von einem Auto geschwängert wurde und scheinbar kurz davorsteht, etwas zur Welt zu bringen, das offenkundig mit Motoröl gesäugt werden muss.
Lang lebe das neue Fleisch
Die Kraft, die Alexias Schwangerschaft möglich macht, ist die gleiche Kraft, die den Film zusammenhält. Die Selbstbefruchtung Alexias durch die Maschine, die radikale Transformation ihrer Identität, die weit über Ideen von Geschlecht hinausgeht, und die Vaterliebe, die all das irgendwie mitzutragen versuchen, sagen auf die schönste, groteskeste, verliebteste und liebevollste Art: Lang lebe das neue Fleisch!