In diese Unterwelt verirren sich nur spärliche Lichtstrahlen. Während viele Meter höher der Trubel der niemals schlafenden Stadt New York pulsiert, herrscht in den U-Bahnschächten eine dumpfe, dunkle Atmosphäre. „Die Sterne kommen nicht so weit runter“, heißt es einmal in „Topside“, und überhaupt scheint es kaum denkbar, dass in diesen schwarzen Hallen eine Form von Leben existiert. Doch in den Nischen der großen Schächte haben sich einige Menschen einen Unterschlupf geschaffen, teils sogar mit provisorischen Wänden abgetrennt, sodass fast ein Anschein von Heimeligkeit entsteht. Zumindest für das fünfjährige Mädchen, das Little genannt wird, ist es die Normalität, weitgehend in Dunkelheit zu leben, das entfernte Grollen der U-Bahnen zu hören und das Beben der Wände zu sehen.
Von der Existenz einer Welt weiter oben weiß Little zwar, doch ihre Mutter Nikki hat ihr erzählt, dass sie erst dann an die Oberfläche dürfe, wenn ihre Engelflügel gewachsen seien. Das stört Little aber nicht sehr, denn noch ist ihr kleines Umfeld erfüllend genug, um den Mangel nicht zu verspüren. Eine schöne Abwechslung sind Besuche bei einem Nachbarn, der in seiner primitiven Behausung immerhin Katzen und einen Weihnachtsbaum hat. Diesen bescheidenen Luxus kann er sich leisten, weil er Drogen verkauft, unter anderem auch an Nikki. Das liegt allerdings jenseits des Auffassungsvermögens der Kleinen, die nur am Rande mitbekommt, dass die Erwachsenen mitunter lautstark etwas verhandeln.
Die „Mole People“ von New York
Bei aller Ärmlichkeit und Not liegt etwas Märchenhaftes über dieser abgeschiedenen Parallelwelt, in die „Topside“ hineinführt. Doch der US-amerikanische Film baut durchaus auf einem realen Fundament auf. Bereits in den 1990er-Jahren wurde erste Reportagen über sogenannte „Mole People“, „Maulwurfsmenschen“, in den New Yorker U-Bahn-Schächten verfasst. Das Regie-Duo Celine Held und Logan George unternahm lange Recherchen, bevor es seinen Spielfilm drehte. Die beiden inszenieren quasi-dokumentarisch und bleiben eng an den Figuren. Besonders die Gefühle des Mädchens vermitteln sich unmittelbar: Erst die Geborgenheit der dunklen Höhle, in der die Kleine ihr bisheriges Leben verbracht hat, dann auch der Schock, als sie abrupt aus dieser Behaglichkeit gerissen wird. Denn als Polizei und Obdachlosenhilfe eines Tages in den Tunneln auftauchen, um diese zu evakuieren, schnappt sich Nikki ihre Tochter, flieht mit ihr an die Oberfläche und sucht verzweifelt einen Unterschlupf.
Inszeniert ist „Topside“ über weite Strecken aus der Perspektive des Mädchens. Die ruhelose Handkamera von Lowell A. Meyer macht die Überforderung hautnah spürbar, wenn Little von ihrer Mutter durch die überfüllten Straßen der abendlichen Metropole gezerrt wird und angesichts der grellen Beleuchtung und des Lärms völlig desorientiert ist. Sie kann ihren Blick nur dann auf etwas fokussieren, wenn Nikki auf ihrer atemlosen Flucht einmal innehält. Doch auch wenn die Mutter einige Anlaufstellen hat, die sie in ihrer Situation anpeilt, ist sie kaum weniger verloren als ihre Tochter und obendrein voller Misstrauen, dass sie verraten und den Behörden ausgeliefert werden könnten.
Aus der Sicht des Kindes
In hohem Tempo folgt der Film der Odyssee von Mutter und Kind durchs nächtliche New York. In der Wohnung eines Dealers und Zuhälters machen sie einen Stopp, flüchten aber dann weiter, ebenso aus dem Gemeindehaus einer Kirche, als die Gläubigen erkennen, dass die beiden obdachlos sind. Der betont unruhiger Ansatz der Inszenierung sowie die feindlich wirkende Stadt, in der sich einzelne Menschen allerdings immer wieder auch empathisch zeigen, erinnern an die Filme der Brüder Ben und Joshuah Safdie mit ihren ebenfalls unter Hochspannung stehenden Protagonisten aus den unteren sozialen Ebenen von New York.
Auch die Mutterfigur, die zuerst egoistisch und weitgehend rücksichtslos gegenüber ihrer Tochter erscheint, könnte dazu passen, doch mehr noch als die Safdies streuen die Regisseur Celine Held und Logan George kleine Gesten des Trostes ein, die Nikki der erschöpften Little spendet. Zudem gelingt es dem Duo, die unfreundliche Aura der Mutter ebenfalls als Teil der Kinderperspektive zu vermitteln, was nicht mehr zu übersehen ist, als es zur Trennung der beiden kommt; bei Nikkis verzweifelter Suche nach Little sind ihre Liebe und Sorge unmissverständlich. Celine Held, die die Rolle der Niki selbst spielt, wächst in dieser nahezu in Echtzeit ablaufenden Sequenz über sich hinaus, wie es auch der Inszenierung hier nochmals gelingt, die Spannung anzuziehen.
Dem Realismus verpflichtet
Über dieser auch formal bemerkenswerten Fertigkeit lässt es sich sogar verschmerzen, dass das bis dahin eindeutige Kraftzentrum des Films plötzlich fehlt: Little-Darstellerin Zhaila Farmer, die ihr Pensum an Szenen mit einer bewundernswerten Belastbarkeit und stets natürlich bleibendem Spiel meistert. Wie sie dabei auch Littles kindliche Neugierde und ein unzerstörtes Urvertrauen trotz aller erlebter Schrecken vermittelt, lässt an Quvenzhané Wallis in „Beasts of the Southern Wild“ (2012) denken. Anders als in dem ins Phantastische übersetzenden Louisiana-Drama ist in „Topside“ aber nicht mit sanftmütigen Urzeittieren oder ähnlichen tröstlichen Erscheinungen zu rechnen. Hoffnung auf ein glückliches Ende für beide Hauptfiguren lässt der Film nur bedingt zu; die Regisseure bleiben konsequent dem Realismus verpflichtet. Die naheliegenden Fallstricke einer plakativen Sozialkritik und eines Elendskitsches umgehen sie dabei jedoch, da ihr zentrales Duo zu stark charakterisiert ist, um sich als Bannerträger simpler Ideen vereinnahmen zu lassen. Ganz von selbst wächst das Mitgefühl für Mutter und Tochter immer weiter – und wird die unausweichliche moralische Entscheidung umso schmerzhafter.