African Mirror
Dokumentarfilm | Schweiz 2019 | 85 Minuten
Regie: Mischa Hedinger
Filmdaten
- Originaltitel
- AFRICAN MIRROR
- Produktionsland
- Schweiz
- Produktionsjahr
- 2019
- Produktionsfirma
- Ton und Bild
- Regie
- Mischa Hedinger
- Buch
- Mischa Hedinger
- Musik
- Rutger Zuydervelt
- Schnitt
- Mischa Hedinger · Philipp Diettrich
- Länge
- 85 Minuten
- Kinostart
- -
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 14.
- Genre
- Dokumentarfilm
- Externe Links
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Doku über den Schweizer Reiseschriftsteller und Dokumentarfilmer René Gardi (1909-2000) sowie dessen einflussreiche Afrika-Werke.
Es war eine andere Zeit, zehn, 20 oder 30 Jahre nach dem großen Krieg, als die Menschen noch ohne Internet und Computer und vielerorts auch ohne Fernseher lebten. Man war neugierig auf Nachrichten aus aller Welt, vor allem aus exotischen Ländern, weltenbummelnde Fotografen und Schriftsteller erzählten in Vorträgen von ihren Abenteuern. In der Schweiz beliebt waren auch Kulturfilmabende, an denen man nicht nur in Kinos, sondern auch in Gemeindesälen und Schulhäusern zusammensaß, um ab Leinwand einen lebhaften Eindruck vom Leben anderswo zu erhalten. Einer der damals bekanntesten Schweizer Reiseschriftsteller und -fotografen war der Berner René Gardi, er drehte in den 1960er-Jahren auch Filme. In „African Mirror“ hinterfragt Mischa Hedinger das von Gardi vermittelte Bild von Afrika.
René Gardi und seine Afrika-Filme
„African Mirror“ besteht hauptsächlich aus Fotos, Filmen, Briefen, Tagebucheintragungen und Berichten, die aus dem Archiv des Schweizer Reiseschriftstellers und Dokumentarfilmers René Gardi stammen. Darunter finden sich auch Aufzeichnungen, die Gardi bei Auftritten im Fernsehen, bei Vereinen oder in Schulen zeigen. René Gardi war von den späten 1950er-Jahren an bis zu seinem Tod im Jahr 2000 in der Schweiz sehr beliebt. Er galt als Kenner Afrikas. Seine Fotobände und Reisebücher fanden sich in nahezu jedem Haushalt; in der populären Fernsehsendung „René Gardi erzählt“ plauderte er vom Sessel aus zu eingeblendeten Bildern. Gardi hat das Afrika-Bild der Schweizer in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts maßgeblich geprägt.
Um dieses Narrativ geht es Hedinger in „African Mirror“. Die ersten Minuten des Films zeigen, auf 16mm-Material, grobkörnig, unscharf und in den Farben verwaschen, schattenhafte Gestalten auf einem Hügel in der Ferne. Eine Stimme liest aus einem Tagebuch von Gardi vor, dass die Menschen im Bild Angehörige des Stammes der Matakam sind. Und dass man in Afrika fast keine Menschen mehr finde, die in solch unberührter Idylle leben. Irgendwann fällt der Begriff des edlen Wilden. Er werde das Bild der dunklen Silhouetten vor dem gelben Abendhimmel kaum je vergessen, merkt Gardi an.
Später zieht er Parallelen zwischen den Matakamen und den Schweizer Berglern, die genauso wild, frei und stolz seien wie diese. Er erwägt sogar, dass man um das Gebiet der Matakam einen Zaun ziehen müsste, um diese Idylle zu bewahren. Dass diese Idylle so, wie sie Gardi in Filmen und Büchern präsentierte, gar nicht existierte, lässt Hedinger die Zuschauer erst allmählich entdecken.
Der sexuelle Missbrauch wird nicht thematisiert
Die Eingangssequenzen von „African Mirror“ sind während einer Expedition Ende der 1950er-Jahre ins nordkamerunische Mandara-Gebirge entstanden. Vielleicht finden sich diese Aufnahme auch in Gardis erstem langen Dokumentarfilm: „Mandara – Zauber der schwarzen Wildnis“, 1960 bei der „Berlinale“ uraufgeführt und sowohl von der offiziellen wie von der Jugend-Jury mit einer Lobenden Erwähnung bedacht; in der Schweiz feierte „Mandara“ große Erfolge.
Der 1909 in Bern geborene Gardi arbeitete nach dem Studium von 1932 an als Lehrer. Nach einem Suizidversuch zeigte er sich 1943 selbst an und wurde der Unzucht mit Kindern für schuldig befunden. Diese dunkle Episode seines Lebens würde ihm heute wohl die Karriere kosten; in der Schweiz war das aber lange kein Thema. Auch Hedinger will erst während den Recherchen auf die Gerichtsakten gestoßen sein. Der Vorfall ist für „African Mirror“ dann auch kaum von Belang. Dass sich in Gardis Blick auf den menschlichen, insbesondere den männlichen Körper sexuelle Vorlieben spiegeln, ist nicht von der Hand zu weisen, wird bei Hedinger aber nicht thematisiert.
Da Gardi infolge seiner Verurteilung ab 1945 eine weitere Lehrertätigkeit untersagt war, machte er seine Hobbies zum Beruf. In jungen Jahren war er ein begeisterter Pfadfinder und hatte schon während seiner Lehrerzeit zwei Jugendbücher veröffentlicht: „Schwarzwasser. Eine Pfadfindergeschichte“, (1943) und „Gericht im Lager. Eine Bubengeschichte“ (1944). Fortan reiste und schrieb er; auf seine Reiseberichte und Fotobände folgten ab den 1960er-Jahren auch Filme.
Nachdem ihn seine ersten Touren nach Skandinavien geführt hatten, begleitete Gardi 1948 einen Freund nach Algerien. Als das Reisebüro Konkurs ging, setzten die beiden ihren Trip auf eigene Faust fort. Bald hieß Gardis Traumdestination Afrika. Er hat den Kontinent denn auch bis ins beachtliche Alter von 82 Jahren immer wieder bereist und jeweils Bilder und Töne mit nach Hause gebracht.
Ein neuer Blick auf Gardis Filme
Mischa Hedinger hat sich in Gardis Nachlass und Werk aufmerksam eingearbeitet. Er sortierte das Vorgefundene und setzte es zueinander in Beziehung. Szenen aus Filmen mit Tagebucheintragungen, die deren Entstehung beschreiben. Fotos mit Auszügen von Briefen. Tonaufnahmen einer europäischen Tischrunde mit fotografischen Stillleben von Afrikanern. Hedinger kommentiert nicht mit Worten. Aber er montiert Bild und Textauszüge derart geschickt, dass sich die Bedeutung und Information des im Bild Gezeigten unablässig verändern und korrigieren – und sich dem Zuschauer in neuer Wertigkeit eröffnet.
So verblassen stolze Matakam-Frauen, die in einer Karawane aufbrechen, um Wasser zu holen, in dem Moment zu bezahlten Laiendarstellerinnen, wenn man hört, dass Gardi sie bestochen hat, um sie filmen zu dürfen. Auch die Information, dass ein Schmied den alten Ofen für die von urtümlichen Trommeln unterlegten nächtlichen Tanzszenen erst auf Bitte Gardis anfeuerte, entwertet das ursprünglich als authentisch Wahrgenommene nachträglich als Inszenierung.
Wie weit Gardi ging, um in seinen Filmen ein Bild des „echten“ Afrikas zu vermitteln, zeigt sich am deutlichsten dort, wo sich eine „traditionelle“ Hochzeit als ein von Anfang bis Ende durchinszeniertes Theater entpuppt, bei dem Gardi, um beim Publikum mehr Eindruck zu schinden, den gängigen Brautpreis nach eigenem Gutdünken maßlos erhöhte.
Der Kolonialismus und seine Folgen
Hedinger geht in seiner Re- und gleichzeitigen Dekonstruktion von Gardis Afrikabild sehr clever und sorgfältig vor. Er zeigt Gardi dabei nicht (nur) als überheblichen Weißen, sondern auch als Mann mit viel Herz für Afrika und einem letztlich untrüglichen Blick dafür, wie Kolonialisierung und Zivilisierung den Kontinent rasant veränderten. So ist ihm bei einer späteren Reise völlig klar, wie falsch oder lächerlich die in Hilfsaktionen in Europa eingesammelten, in Afrika verteilten und von den Einheimischen getragenen Kleidungsstücke wirken.
In einem Interview betont Hedinger, dass er während seiner Recherche immer wieder gemerkt habe, wie auch heute noch Menschen den schwärmerischen Gardi-Bildern erliegen. Und tatsächlich entdeckt man beim Betrachten von „African Mirror“ immer wieder, welch seltsam verschobenes, idyllisches Bild von Afrika man selbst verinnerlicht hat, nachgerade im Gefolge von Gardis Büchern und Filmen; auf „Mandara“ folgten „Dahomey“ (1961), „Die Glasmacher von Bida“ (1963), „Nous, les autres“ (1964) und „Die letzten Karawanen“ (1967).
In der Schweiz wurden die helvetischen Verstrickungen in koloniale Projekte viele Jahre lang kaum diskutiert. In jüngerer Zeit findet diese wenigstens in der Forschung Beachtung; so beschäftigt sich die Dissertation von Felix Rauh, „Bewegte Bilder für eine entwickelte Welt“ (Chronos Verlag, 2018), in der das Schaffen von Schweizer Dokumentarfilmern im Zusammenhang mit der Entwicklungshilfe untersucht wird, auch mit Gardis Afrika-Filmen.
„African Mirror“ ist faszinierend und topaktuell. Vor allem dort, wo der Film über sich hinausweist und das thematisiert, was in der heutigen, von der Rasanz der virtuellen Informationsübermittlung geprägten Zeit oft vergessen geht: dass jedes fotografische Bild auktorial ist, also eine subjektive Komponente enthält, und eine dokumentarische Objektivität somit gar nicht existieren kann.
Etwas bedauerlich ist, dass „African Mirror“ Gardis Werk und Schaffen sozial- und kulturhistorisch kaum kontextualisiert; auch macht Hediger seine Kriterien im Umgang damit nicht deutlich; so verzichtet er im Film auf exakte Quellenangaben. Denn auch Hedingers Auslegung von Gardis Afrikabild ist bloß eine (persönliche) Interpretation davon.