Classmates Minus
Drama | Taiwan 2021 | 122 Minuten
Regie: Huang Hsin-yao
Filmdaten
- Originaltitel
- CLASSMATES MINUS
- Produktionsland
- Taiwan
- Produktionsjahr
- 2021
- Produktionsfirma
- Cream Film Prod./Mandarin Vision
- Regie
- Huang Hsin-yao
- Buch
- Huang Hsin-yao
- Kamera
- Chung Mong-Hong
- Musik
- Ko Ren-chien · Eddie Tsai
- Schnitt
- Lai Hsiu-hsiung
- Darsteller
- Chen Yi-wen · Cheng Jen-Shuo · Liu Kuan-Ting · Lin Na-Dou · Ada Pan
- Länge
- 122 Minuten
- Kinostart
- -
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Genre
- Drama
- Externe Links
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Das Porträt von vier Freunden in mittleren Jahren, die mit den Enttäuschungen ihres Lebens hadern.
Alte Freunde aus Kindheitstagen sitzen zum ersten Mal gemeinsam in dem wunderschönen Haus, das einer von ihnen gerade erst gebaut hat. Eine Art Einweihungsparty. Alles ist ein wenig klein, aber die Einrichtung ist farbenfroh und die Aussicht traumhaft. Der Blick aus dem Fenster fällt direkt auf den schneebedeckten Fuji. Was merkwürdig ist, da das Haus in Taiwan steht. Die Aussicht ist nur gemalt, das Haus ist aus Papier und steht in einem halbverfallenen Schuppen. Selbst der Wachhund vor der Tür ist nicht echt. Ein bunter Traum in einem grauen Leben, prekär, fragil; ein Windstoß oder ein Regenschauer – und schon würden nur noch bunte Fetzen und Papiermatsch bleiben.
Der zweite Spielfilm des taiwanesischen Regisseurs Huang Hsin-yao ist schon dem Namen nach eine Reaktion auf den ersten: Auf „The Great Buddha+“ folgt nun „Classmates Minus“. Die erste Einstellung des Films hebt den Kontrast hervor. Aus dem Off erzählt der Regisseur, was sich für ihn in den letzten drei Jahren verändert hat: nämlich sein Blick auf die Welt. Das Seitenverhältnis von 1,85:1 dehnt sich plötzlich auf 2,35:1, das Bild wird farbig, selbst seine Stimme klingt besser abgemischt. Auf einen kühlen Festivalfilm in Schwarz-Weiß folgt eine sehr persönliche, bunte Produktion für Netflix. Nach dem größten Erfolg seiner bisherigen Karriere erzählt der Filmemacher jetzt vom Scheitern.
Vier Freunde und die große Enttäuschung
Die vier Freunde aus dem Papierhaus sprechen einander fast nur mit Spitznamen an: Tom ist ein mäßig erfolgreicher Regisseur und hält sich mit Werbung für Potenzmittel und lokale Politiker über Wasser. Bei einem Dreh wird er vom Kongressabgeordneten der Stadt plötzlich als Kandidat ausgewählt. Fan Man plagt sich in einem wenig erfüllenden Bürojob ab und kämpft mit Schlaflosigkeit. Tin Can stößt als Mitarbeiter der Stadtverwaltung auf seine Jugendliebe Minus, die mittlerweile als Prostituierte arbeitet. Und der stotternde Blockage baut Papiermodelle und kümmert sich um seine alternde Großmutter. Parallel dazu sucht er nach einer Ehefrau, was durch seine Sprachstörung nicht unbedingt erleichtert wird. Manchmal erscheinen ihm Geister.
Ihr Leben im mittleren Alter hatten sie sich allesamt anders vorgestellt - glamouröser, sicherer, zufriedener. Weniger geprägt von der Suche nach der eigenen Identität und einem Platz in der Ordnung der Dinge. Ihre Geschichte ist keine vom Erwachsenwerden, folgt aber an vielen Stellen ähnlichen Mustern. Nur eben erzählt mit einer großen Weltmüdigkeit, als würde der Film die Erschöpfung seiner Figuren teilen. Irgendwo mag es einen Punkt geben, an dem man endlich ins Leben gefunden hat, aber der scheint sich den Männern immer wieder zu entziehen. Zwischen den Erlebnissen der vier Protagonisten wird durchgängig hin und her geschnitten. Viele Szenen sind dabei voll von absurdem Humor, der aber nie laut und lärmig daherkommt. Das Absurde wird einfach vorgefunden und meist mit einem Schulterzucken zur Kenntnis genommen. Jeder neue Abgrund wird erduldet; für mehr als milde Irritation reicht es meist nicht. Einmal fordert Tom bei einem Dreh mehr Respekt. Er wolle am Set nicht mit „Tom“, sondern als „Herr Regisseur“ angesprochen werden. Kaum eine Sekunde vergeht, da ruft ihn jemand aus dem Off: „Tom!“
Die Orte sprechen für die Menschen
Die Kulissen schillern und glitzern, wie um die Menschen zu überstrahlen. Sie werden in langen Totalen gefilmt, oft mit einer gewissen Distanz, die die Figuren schrumpfen lässt. Nach „Classmates Minus“ erinnert man sich eher an Schauplätze als an Menschen. Etwa an Toms futuristisches Wahlkampfbüro, eine Sammlung blauviolett leuchtender Bildschirme, von denen den gelangweilten Regisseur eigentlich nur einer interessiert – derjene, der eine Toilette zeigt. Hier wird er von der Assistentin seines Chefs mit einem Gespräch über Kaffee verführt.
Im Kopf bleibt auch die Wohnung der jetzt als „Masseurin“ arbeitenden Minus mit der dichten (fast almodovaresken) Quadrate-Tapete, die später in ein dunkles Rot und verzweifelte Erotik getaucht wird. Tin Can trifft einmal auf einen Mann, der sich nach einem Streit um sein Grundstück entschlossen hat, nie mehr ein Wort zu sagen; dafür aber hat er jeden Millimeter seiner Zimmerwände mit Schriftzeichen vollgekritzelt. Die Orte sprechen für die Menschen, oft sogar über sie hinweg.
Die Welt, die die Figuren vorfinden, scheint nicht für sie gemacht zu sein. Einer der Freunde hat sich einen Motorrad-Parkplatz für sein Auto gekauft. Er ist stolz auf dieses Schnäppchen, muss aber sein Fahrzeug jedes Mal wieder mühsam von Hand aus der Lücke zerren. Selbst, wenn er nur etwas im Auto hat liegen lassen.
Das seltsame Sisyphus-Ringen um das Glück
Man könnte „Classmates Minus“ leicht für einen Film über die Midlife-Crisis halten, doch es geht eher ums Scheitern an sich. Um das Gefühl, selbst Triumphe als Niederlagen zu erleben. Das seltsame Sisyphus-Ringen um das Glück, das immer in Griffweite und doch unerreichbar scheint.
Gerade in autobiografischen Filmen können Regisseure ihr Leben schnell verklären und sich selbst überhöhen. Huang Hsin-yao scheint hingegen aufrichtig bemüht, seines in Frage zu stellen. Von der ersten Szene an etabliert er eine Regisseur-Figur außerhalb der Filmwelt, die immer wieder hinterfragt und eingreift. Sie kritisiert dann etwa, dass einer der Darsteller schon zum dritten Mal in einer neuen Rolle auftaucht: „Jetzt, wo wir 3-in-1-Instant-Kaffee haben, können wir auch 3-in-1-Darsteller haben.“ Einmal heißt es: „Dieser Film könnte der erste der Geschichte sein, in dem der Regisseur ins Bild tritt, um Leute zu schlagen“, und tatsächlich tritt Huang Hsin-yao hinter der Kamera hervor, um sein Regie-Alter-Ego Tom zu malträtieren.
Mit ironischer Autoaggression und süffisanter Selbstkritik entkommt der Regisseur natürlich nie ganz seinem Narzissmus, im Gegenteil. Im Kern des selbstgeschaffenen Gedankenlabyrinths trifft er immer auf sich. Die große Ratlosigkeit, die der Film einer Generation zuschreibt, scheint unauflösbar. Und ein wenig Nabelschau und Larmoyanz bleiben immer. Dafür gelingt es „Classmates Minus“, unter einer bunten Oberfläche ein tiefes Unbehagen spürbar zu machen. Was, wenn jeder unserer Träume aus Papier gemacht ist, bunt und schön und falsch? Wir tasten nach den schützenden Wänden unserer Existenz und greifen ins Leere.