Wenn ein großstädtisches Paar nicht nur zwei Kinder aufzieht, sondern gemeinsam auch eine Werbeagentur leitet, kann es passieren, dass gelegentlich der Distanz ermöglichende Freiraum fehlt. Bei Jan und Nina, grandios gespielt von Mark Waschke und Sabine Timoteo, läuft diese Vermutung auf den ersten Blick ins Leere. Die pubertierende Tochter Emma erlebt den Ausnahmezustand ihres Alters emotional schwankend wie die meisten Teenager, ihr jüngerer Bruder Max ist innig verbunden mit seiner Ratte. Die Eltern bewältigen mechanisch den Alltag, auch wenn sie über ihre Kunden nicht immer einer Meinung sind, was sie an den Rand einer beruflichen Trennung führt. Deshalb fährt die Kleinfamilie an die belgische Küste, um sich übers Wochenende zu erholen und den privaten Zusammenhalt zu stärken.
Jeder erzählt eine andere Version
Während Jan einkaufen geht, brechen Fremde in das familieneigene Ferienhaus ein. Bei seiner Rückkehr muss er die blutende Nina beruhigen; von den Einbrechern fehlt da schon jede Spur. Für die Polizei ist die Sache mit einer Anzeige erledigt. Doch nicht so für die vier. Wie in Kurosawas „Rashomon“ erzählt jeder eine andere Version. Max bezichtigt seinen Vater sogar, ein Feigling zu sein und sich draußen versteckt zu haben, um nicht mit den Einbrechern kämpfen zu müssen. Auf die scheinbare Harmonie folgt ein latenter Strom aus Dissonanzen und Entfremdung, vor allem zwischen Jan und Nina, zumal der von ihm übernommene PR-Auftrag einer populistischen Partei wie ein Damoklesschwert über dem Paar schwebt und unterschiedliche Weltbilder zu Tage fördert.
Während sich das Quartett in der Gefahr zunächst näherkommt, um dann aber zunehmend die Bodenhaftung zu verlieren, irritiert Regisseur Ronny Trocker in „Der menschliche Faktor“ überdies mit einer nicht-linearen Erzählweise, die das anfängliche Familiendrama allmählich in einen auf explizite Horroreffekte verzichtenden Thriller verwandelt. Die Bedrohung aus dem Inneren der Figuren droht dabei in die ohnehin multiperspektivisch ausfransende Handlung durchzudringen. Selbst die Tatsache des Einbruchs gerät ins Wanken. Vielleicht waren es gar keine Diebe, sondern Aktivisten, die Jans Kampagne für die extremistische Partei ablehnen? Oder doch nur eine kollektive Einbildung von Menschen, die zu lange aneinander vorbeigelebt haben?
Viele Fährten laufen ins Leere
Einen Ruhepol in dem Wirrwarr bietet die Kamera von Klemens Hufnagl, die zugleich aber auch faszinierende Bilder findet. Mal steckt sie penetrant im Nacken der Figuren, blickt durch Türen und Flure oder erschafft in der Totalen malerische Landschaften. Sie beobachtet die Familie, als würde diese in einem Versuchslabor stecken, ohne dass man erfährt, wer eigentlich die Strippen zieht. Zu viele Fährten laufen ins Leere, und doch bleibt man am diffusen Geschehen dran, allein schon wegen der Dramen, die sich in den Gesichtern der Darsteller abspielen. Statt miteinander zu reden, zieht es Nina vor, ihre eigenen schmerzhaften Schlüsse zu ziehen.
Nach dieser Auszeit ist die Familie eine andere geworden, fragiler und misstrauischer denn je. „Der menschliche Faktor“ ist ein psychologisch konzentrierter, aber gerade durch seinen unspektakulären Gestus beunruhigender und zutiefst beeindruckender Film.