Nico lässt sich nichts gefallen. Selbstbewusst tritt sie für ihre Rechte ein, abfällige Bemerkungen im Alltag kontert sie schlagfertig. Ihre Patient:innen behandelt die junge Altenpflegerin einfühlsam und mit einer fröhlichen Vertrautheit, die über einfache Dienstleistungen weit hinausgeht. Dafür wird sie sehr geschätzt.
Mit ihrer Freundin Rosa zieht sie durch das urbane Berlin. Nach Feierabend trinken die beiden Schnaps im Kiosk, albern in fließendem Wechsel zwischen Deutsch und Farsi herum, diskutieren über Emanzipation und Verschleierung und tanzen unter freiem Himmel in die sommerliche Dämmerung hinein. Bis Nico, die iranische Wurzeln hat, auf dem Heimweg an einer einsamen Bahnunterführung rassistisch angegriffen und zusammengeschlagen wird.
Sie erwacht im Krankenhaus. Die Platzwunden und Prellungen heilen mit der Zeit. Zurück aber bleiben Wut und Hilflosigkeit. Nie wieder will sie zum Opfer werden. Deshalb beginnt sie mit dem Karatemeister Andy zu trainieren und ihren Körper abzuhärten. Auch emotional verschließt sie sich; nicht einmal Rosa kann sie noch erreichen. Um nach dem traumatischen Erlebnis in ihr selbstbestimmtes Leben zurückkehren zu können, muss Nico einen Weg finden, ihre Wut zu bewältigen.
Dokumentarische Unmittelbarkeit
Das Langspielfilmdebüt „Nico“ von Eline Gehring, gemeinsam entwickelt mit ihren dffb-Kommilitoninnen Francy Fabritz und Sara Fazilat, die auch die Hauptrolle spielt, beeindruckt durch den sensiblen Umgang mit einem fordernden Thema. In fast dokumentarisch anmutenden Bildern entfaltet sich die Geschichte mit großer Unmittelbarkeit. Die Handkamera bleibt ganz bei der Protagonistin, folgt ihr auf dem Fahrrad oder zeigt ihr ausdrucksstarkes Gesicht in Großaufnahme. Vor allem die Schlüsselszene, in der Nico geschlagen wird, ist gelungen umgesetzt. Mit den Täter:innen tritt die Kamera unangenehm dicht an sie heran, fängt die ersten Stöße und Schläge ein und wechselt dann in ihre subjektive Perspektive. Die Bilder verschwimmen, und die Orientierung fällt schwerer, während ihr Bewusstsein schwindet; zuletzt wird das Blickfeld schwarz. Die Szene schockiert, ohne auf exzessiv detailreiche Gewaltdarstellungen zurückzugreifen – was sie umso wirksamer macht.
Auch der Ton passt sich Nicos subjektiver Wahrnehmung an: Ihre Umgebung versinkt in einem dumpfen Rauschen, Geräusche wie das Rattern der Bahn und die Sirene des Krankenwagens drängen in den Vordergrund. Ton und Bild wechseln auch nach der Tat immer wieder in diese Subjektive, wenn Nico in bruchstückhaften Erinnerungen von Flashbacks heimgesucht wird. Musik wird nur sparsam eingesetzt. Wie der Einsatz von Laiendarsteller:innen in Nebenrollen und die teils improvisierten Dialoge trägt dies zur realistischen Wirkung der Erzählung bei. Während man als Zuschauerin Nicos Perspektive einnimmt, kommt man ihrem Erleben und ihren Gefühlen ganz nahe.
Kampf um Selbstermächtigung
Im Zentrum von „Nico“ steht ein rassistisch-islamophob motivierter Angriff. Dennoch gibt der Film den Täter:innen wenig Raum. Es geht nicht um Vergeltung oder Reformierung, sondern um Selbstermächtigung. Nico, die sich vor dem Angriff unbeschwert in der Stadt bewegte, wird auf brutalste Art klargemacht, dass sie nicht für alle dazugehört; Teile der Gesellschaft stehen ihr feindlich gegenüber. Diese Erfahrung stellt ihr Selbstverständnis in Frage. Nico muss Strategien entwickeln, um damit umzugehen und das Vertrauen in die eigene Stärke, aber auch in andere zurückzugewinnen.
Das Gefühl der Zugehörigkeit, das ihr durch die Tat genommen wurde, kann sie sich nur selbst wieder erarbeiten. Dass dieser Prozess anstrengend und voller Hindernisse ist, macht der Film ungeschönt deutlich. Er behauptet auch keine Rückkehr zu einem unbefangenen Davor; gleich mehrfach zeigt er neue potenziell bedrohliche Situationen. Doch gerade deshalb ist die Botschaft hoffnungsvoll: Trotz aller Schwierigkeiten kann Nico ihre Ohnmacht abschütteln und vom Opfer wieder zur Kämpferin werden.
Plädoyer für eine diverse Gesellschaft
Neben diesem zentralen Konflikt wird in „Nico“ mit bemerkenswerter Leichtigkeit ein breites Spektrum menschlicher Diversität ausgebreitet. So ist Nicos Patientin Brigitte alt, krank und dick; dennoch wird sie als lebensfreudiger Mensch mit einer aktiven Sexualität gezeigt. Beiläufig wird deutlich, dass Rosa lesbisch ist. Ronny, eine junge Frau aus Mazedonien, die Nico und Rosa auf dem Jahrmarkt kennenlernen und die mit Nico mehr als diese Zufallsbekanntschaft verbindet, hat keine Papiere. Immer wieder bricht der Film mit Stereotypen: Rosas Dealerin ist konservativ gekleidet, weiß und mittleren Alters; zwei Frauen mit Kopftuch unterhalten sich angeregt über Dildos. So wird das Bild einer selbstverständlich vielfältigen Gesellschaft entworfen, das sich auch gegen rechte Gruppierungen positioniert, die alle ausgrenzen, die ihnen fremd erscheinen. „Nico“ ist damit nicht zuletzt ein Aufruf, zu einem offeneren Zusammenleben beizutragen.