Losing Alice
Drama | Israel 2020 | Minuten
Regie: Sigal Avin
Filmdaten
- Originaltitel
- LOSING ALICE
- Produktionsland
- Israel
- Produktionsjahr
- 2020
- Produktionsfirma
- Dori Media Darset
- Regie
- Sigal Avin
- Buch
- Sigal Avin
- Kamera
- Rotem Yaron
- Musik
- Tom Armony · Tom Darom · Assa Raviv
- Schnitt
- Yael Hersonski
- Darsteller
- Ayelet Zurer (Alice) · Lihi Kornowski (Sophie) · Gal Toren (David) · Yossi Marshek (Tamir) · Shai Avivi (Ami)
- Länge
- Minuten
- Kinostart
- -
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 16.
- Genre
- Drama | Serie
Heftige Psychothriller-Serie um ein geheimnisvolles Drehbuch und seine Verfilmung. Im Grenzbereich von Fiktion und Wirklichkeit offenbaren sich ungeahnte Obsessionen, die tödlich enden könnten.
Was sich wirklich im Hotelzimmer 209 zugetragen hat, das werden wir Zuschauer eine Weile lang nicht erfahren. Zwar wohnen wir dem tödlichen Geschehen der Eröffnungssequenz von „Losing Alice“ bei, doch entzieht sich der Schrecken vor unseren Augen zunächst jedem Bedeutungszusammenhang. Wer ist die junge Frau in Großaufnahme, die hier ihrem Leben ein Ende bereitet? Was mag sie hinter sich haben? Wer hat sie in die Verzweiflung getrieben? Diese Fragen finden so schnell keine Antwort. Oder schlimmer: Keine der Antworten darauf wird die Erwartungen der Zuschauer oder die der handelnden Akteure befriedigen.
Von den ersten Einstellungen an legt die israelische Serie gezielt Spuren. Einige davon werden in die Irre führen; andere auf verheißungsvolle Umwege; und wieder andere direkt in das wahrhaft dunkle Herz des zehn Episoden umfassenden Psychothriller-Stoffs. Etwas wird sich am Ende immer entziehen: dem Begehren nach Auflösung, nach Wahrheit, nach Erfüllung. Das Unbefriedigt-Sein ist Motiv und Antrieb der fragmentierten Erzählung, die mit einer ominösen Zugfahrt so richtig beginnt.
Ein Film-im-Film-Projekt mit heißem Stoff
Die titelgebende Alice (Ayelet Zurer), eine Filmemacherin inmitten einer Schaffenskrise, lernt im Abteil die junge Sophie (Lihi Koronowski) kennen. Die Filmstudentin offenbart sich der Regisseurin: Sie sei ein Riesenfan von Alice‘ Arbeit und habe außerdem ein Drehbuch geschrieben, das nur von ihr, ihrem großen Vorbild, verfilmt werden könne. Die konsternierte Alice gibt sich zunächst zögerlich, als Sophie jedoch nebenbei bemerkt, dass sie das Skript dem Schauspieler-Ehemann der Filmemacherin habe zukommen lassen und er davon total begeistert sei, ist ihr Interesse an Sophie und dem Drehbuch geweckt. Zuhause konfrontiert sie sogleich ihren Gatten David (Gal Toren) mit der Frage, warum er ihr von dem Drehbuch nichts erzählt habe. Der Stoff des Skripts mit dem Titel „Raum 209“ ist ein heißes Eisen. Er handelt von zwei jugendlichen Freundinnen, die – mit Vorsatz – eine Affäre mit dem Vater der jeweils anderen beginnen. Um Sex, Gewalt und Obsession dreht sich darin alles. Alice zweifelt daran, dass es sich bei dem Szenario um pure Fiktion handelt: „Es ist schwer, bei etwas so Verrücktem so genau zu sein“. Schon bald beginnen die Dreharbeiten unter Alice‘ Regie.
Wer führt jenseits der Kamera die Regie?
Auf unheimliche Weise fängt die Handlung der sich entspinnenden Film-im-Film-Erzählung an, Auswirkungen auf das „reale“ Leben von David und Alice nehmen. Das Ehepaar, sein unmittelbares Umfeld, sogar die Kinder der beiden zeigen sich fasziniert und hingerissen von Sophie. Kaum eine(r) vermag sich ihrem Charme zu entziehen. Eine fast schon schreckliche Schönheit und Ausstrahlung ist der jungen femme fatale zu eigen. Eine, die sich als verhängnisvoll genug erweist, Existenzen in den Abgrund zu reißen. Vom Reiz des Kontrollverlustes, der sich in Gegenwart von Sophie nur allzu gern Bahn bricht, will sich die Filmemacherin Alice – die sich ebenso zu ihr hingezogen fühlt – nicht einfangen lassen. Sie beginnt an dem Machtgefüge, das Sophie wie selbstverständlich errichtet, zu rütteln und sich als diejenige zu begreifen, die auch abseits vom Filmset die Regie innehat. Und sie beginnt mit Hintergrundrecherchen zu Sophies Person. Es folgen brisante Entdeckungen. So ist nicht nur ein ursprünglich für das Projekt „Raum 209“ angedachter Regisseur verschwunden, auch Sophies beste Freundin ist seit geraumer Zeit unauffindbar. Immer deutlicher ins Bild drängt dagegen ein um viele Jahre älterer Liebhaber Sophies (Shai Avivi), von dem eine zweifelhafte, höchst bedrohliche Ausstrahlung ausgeht.
Mehr im Geist des Autorenfilms als der Mainstream-Serien
Verantwortlich für die Entwicklung und Umsetzung von „Losing Alice“ ist die Regisseurin, Produzentin und Drehbuchautorin Sigal Avin. Sie gilt in Israel und auch in den USA seit einiger Zeit als ausgesprochen hoffnungsvolles Serientalent. Mit dem Rechteerwerb von „Losing Alice“ durch Apple TV gelingt ihr ein großer internationaler Wurf – und der Erfolg ist mehr als verdient. „Losing Alice“ unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von der breiten Masse aktueller Serienproduktionen. Weniger durchgetaktet und stromlinienförmig zeigt sich die Serie hinsichtlich ihres Handlungsaufbaus: Dem vertrackten Nebeneinander aus Haupthandlung, Film-im-Film-Elementen und Traum- wie Fantasiesequenzen werden keine engen zeitlichen Grenzen gesetzt, im Gegenteil, den Dreharbeiten zu einer Sexszene zwischen David und Sophie, die im Film praktischerweise auch die Hauptrolle ihres Drehbuchs übernimmt, dehnt sich über die Dauer einer ganzen Episode. Damit bewegt sich „Losing Alice“ über weite Strecken mehr im Bereich des Autorenfilms als im Bereich von Mainstream-Serie, die allzu gerne auf eine so strikte wie formelhafte Erzählökonomie verfallen. Bisweilen entstehen zwar erzählerische Längen, die Sigal Avin jedoch durch jede Menge visuellen Ideenreichtum wettmacht. Im Look eines modernen Neo-Noir-Thrillers treibt sie ihre Figuren durch eine urban-suburbane Albtraum-Szenerie. Immerzu droht an der nächsten Straßenecke oder auf zwielichtigen Hotelfluren ein nichtgeahntes Unheil. Avin spielt dabei mit subtilen Formen des psychologischen Horrors. Trotz offensichtlicher Einflüsse wie „Mulholland Drive“, „Black Swan“ oder „Nocturnal Animals“, vermag es Sigal Avin, ihrer Produktion einen ganz eigenständigen künstlerischen Stempel zu verpassen. Reizvoll ist in „Losing Alice“ vor allem der genuin weibliche Blick auf ein (film-)historisches, im Grunde misogynes Rollenmuster, die femme fatale. Anhand der unwiderstehlichen Sophie dekonstruiert Avin geschickt den Mythos der gemeingefährlichen, ehezerstörenden und dämonischen Frauenfigur. Als Übel erscheint bei ihr nicht die moralisch kompromittierte, „verhängnisvolle Frau“, sondern vielmehr die obsessiven Projektionen der Männerwelt. Deren Blicke sind in „Losing Alice“ die eigentliche Heimsuchung.