Dokumentarfilm | Deutschland 2020 | 276 (sechs Folgen) Minuten

Regie: Marie Wilke

Eine Serie über den realen Kriminalfall rund um das Verschwinden und die Ermordung der neunjährigen Peggy Knobloch im Mai 2001 in der bayerischen Stadt Lichtenberg. Die sechs Folgen rekonstruieren das Geschehen mittels akribischer Recherche, eines ausgeklügelten Sounddesigns und ohne Wertung oder Effekthascherei, sodass sich eine außergewöhnliche narrative Sogkraft entfaltet. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2020
Produktionsfirma
Kundschafter Filmproduktion
Regie
Marie Wilke
Buch
Marie Wilke
Kamera
Alexander Gheorghiu
Musik
Uwe Bossenz
Schnitt
Thomas Krause
Länge
276 (sechs Folgen) Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm | Krimi | Serie

Eine Serie über den realen Kriminalfall rund um das Verschwinden und die Ermordung der neunjährigen Peggy Knobloch im Mai 2001 in der bayerischen Stadt Lichtenberg.

Diskussion

7. Mai 2001: Im oberfränkischen Lichtenberg verschwindet ein neunjähriges Mädchen am helllichten Tag. Sofort begann eine der spektakulärsten Suchaktionen der jüngeren deutschen Geschichte. Hundertschaften der Polizei, Kräfte der Freiwilligen Feuerwehr, Tauchertrupps und sogar Flugzeuge der Bundeswehr wurden in einem Radius von 30 Kilometern eingesetzt. Parallel machten auflagenstarke Boulevardzeitungen das mysteriöse Verschwinden von Peggy Knobloch in reißerischer Manier zum Aufmacher zahlreicher Ausgaben.

Prompt reisten unzählige Reporterteams in die zweitkleinste bayerische Stadt, die direkt an der Grenze zu Thüringen liegt und aufgrund des „Höllentals“ unterhalb der historischen Burgruine vor allem bei Wanderern und Tagesausflüglern beliebt ist. Doch von Peggy Knobloch fehlte auch Wochen nach Beginn der Fahndung immer noch jede Spur. Rasch wurde von der bayerischen Polizei eine „SOKO Peggy“ installiert, die in den folgenden fast zwanzig Jahren quasi jeden Lichtenberger vernahm und allein in den Sommermonaten 2001 hunderte Zeugenaussagen protokollierte.

„Wie ein dunkles Loch“

„Dieser Fall hat eine unglaubliche Dimension: er ist für mich wie ein großes dunkles Loch, wie so ein Grauen, in dem es keinen Halt mehr gibt. Zugleich stand für mich das Schicksal des kleinen Mädchens Peggy immer im Zentrum meiner Arbeit: Ihr wollte ich mit der Wahl meiner filmischer Mittel immer gerecht werden“, sagt Marie Wilke am Ende der vierjährigen Produktionszeit von „Höllental“, der deutschen True-Crime-Serie, die in sechs sehenswerten Episoden für „Das kleine Fernsehspiel“ im ZDF entstanden ist und den Fall rückblickend aufrollt.

Dafür hat sich die Regisseurin von „Staatsdiener“ und „Aggregat“ akribisch durch 80.000 Seiten Aktenmaterial gekämpft, aus dem der Dokumentarfilmer Thomas Heise als Sprecher aus dem Off vielfältig zitiert und zugleich permanent neue Assoziationsketten schafft. „Ich habe von vornherein keinen investigativen oder journalistischen Ansatz verfolgt. Für mich war Errol Morris’ „Der Fall Randall Adams“ ein wesentlicher Einfluss für dieses außergewöhnliche Serienprojekt, das in meinen Augen von konzentrischen Kreisen geprägt ist: Das macht den Fall Peggy Knobloch einerseits so spannend, andererseits auch so reich an Widersprüchen.“

Ein erster Verdächtiger und zahlreiche überraschende Wendungen

Anfangs geriet der 23-jährige Hilfskellner Ulvi Kulac ins Visier der Ermittler. Der kognitiv beeinträchtigte Sohn eines Lichtenberger Gastwirtpaares wurde im September 2001 als erster Hauptverdächtiger festgenommen. Er gestand, Peggy sowie weitere Kinder aus Lichtenberg sexuell missbraucht zu haben. Nach vierzig Verhörtagen und einer ominösen letzten Stunde ohne Anwalt verkündeten die Ermittler im Oktober 2001 via Pressekonferenz schließlich, dass er den Mord an Peggy gestanden habe, wodurch Ulvi Kulac im April 2004 trotz fehlender Leiche zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt und in die Klinik für Forensische Psychiatrie von Bayreuth eingewiesen wurde.

Nachdem dort aber ein Mitpatient von Ulvi Kulac und ehemaliger V-Mann im September 2010 seine belastende Aussage überraschend widerrief und wörtlich als „Lüge“ bezeichnete, erfuhr der Kriminalfall nochmals eine komplette Wende. So ordnete das Landgericht Bayreuth im Dezember 2013 die Wiederaufnahme des Falls an. Es kam zu neuerlichen umfassenden Ermittlungen, doch erneut liefen heiße Spuren ins Leere, ebenso wie Nachforschungen im persönlichen Umfeld der Familie Knobloch zu nichts Konkretem führten. Im Mai 2014 wurde Ulvi Kulac freigesprochen.

Eine Leiche wird gefunden, doch die Rätsel bleiben

Für den nächsten Paukenschlag sorgte ein Pilzsammler im Juli 2016, als er in einem Waldstück im thüringischen Saale-Orla-Kreis völlig überraschend Teile eines kindlichen Skeletts fand: die gefundenen Knochen stammten zweifelsfrei von Peggy Knobloch. Kurz danach wurde bizarrerweise am Fundort des Skeletts eine DNA-Spur des NSU-Terroristen Uwe Böhnhardt entdeckt, was ein weiteres Mal zu vogelwilden Spekulationen führte, bevor offiziell Ermittlungspannen eingeräumt wurden.

Medienaufsehen rief dann noch einmal eine groß angelegte Razzia im September 2018 hervor. Im bayerischen Marktleuthen wurde Manuel S. vernommen, der gestand, Peggys Leiche in ein Waldstück in Thüringen, zum späteren Fundort, gebracht zu haben, was er nach seiner Festnahme allerdings widerrief. Am 22. September 2020 stellte die zuständige Staatsanwaltschaft Bayreuth schließlich das gleichfalls komplexe wie langjährige Verfahren ein, da Manuel S. eine direkte Täterschaft nicht eindeutig nachgewiesen werden konnte. Somit wurde der brisante „Mordfall Peggy Knobloch“ vorerst zu einem „Cold Case“, der möglicherweise für immer ungelöst bleibt.

Ein Berg an ungelösten Fragen

Das unscheinbare Städtchen Lichtenberg, „eine archaische Idylle wie in einem bösen Märchen“ (Marie Wilke) dient in allen sechs 45-minütigen Episoden der Serie als zentraler narrativer Gabelungspunkt. Denn wie kann ein Mädchen, das scheinbar alle vor Ort gekannt haben, kurz nach Schulschuss schlagartig verschwinden? Warum gibt es am Ende über 8000 Spuren, die allesamt zu keinen stichhaltigen Beweisen führen? Wieso existieren unzählige Zeugenaussagen, in denen behauptet wird, Peggy selbst nach ihrem Verschwinden noch lebendig gesehen zu haben? Welche Rolle spielt Peggys offensichtlich ungeliebter Stiefvater? Und wie soll der schwergewichtige und geistig behinderte Ulvi Kulac eine sportliche Neunjährige in Hanglage verfolgt und mit Absicht erdrosselt haben?

Alexander Gheorghius soghafte Bildgestaltung setzt dafür von Beginn an auf seltsam entrückte, menschenleere Freeze Frames der Lichtenberger Topographie mit Peggys Wohnhaus als visuellem Ankerzentrum. In diesen zwischen Nüchternheit und Hyperrealismus mäandernden Bildsequenzen entfaltet sich zusammen mit Uwe Bossenz’ dezentem, aber unheimlichem Sounddesign eine untergründige Spannung – besonders eindrucksvoll in der ersten („Das Verschwinden“) und fünften („Die Spuren“) Episode. 

Ohne Effekthascherei

Ohne vorgefertigte Wertung oder boulevardeske Effekthascherei und ganz auf die Macht des O-Tons setzend, überzeugt Marie Wilkes zurückhaltendes Regiekonzept durchgängig. Allein mit Schwarzblenden, statisch kadrierten Befragten und einer klugen Auswahl aus knapp zwanzig Interviewpartnern, die von SOKO-Ermittlern über Gerichtsreporter bis zu Lichtenberger Einwohnern oder Ulvi Kulac’ Betreuerin Gudrun Rödel sowie dessen Rechtsanwalt Michael Euler reichen, gelingt der Serienmacherin eine narrative Wucht, die sich konsequent durch alle Teile zieht.

Das multiperspektivisch in Szene gesetzte True-Crime-Format, das im Gegensatz zu amerikanischen Pendants ohne Bilder aus dem Gerichtssaal oder von Verhören auskommen muss, rekonstruiert die Rätsel um das Verschwinden und den Mord sehr differenziert. Dabei werden etwa auch die Fehler innerhalb des Polizeiapparates wie in der Justiz ungeschönt aufgezeigt und zur Diskussion gestellt. Ohne Reenactments wie etwa bei Errol Morris und im Wechsel aus Originalschauplätzen, Fotos, Polizeiakten, Zeitungsberichten und sparsam verwendetem Archivmaterial erbringt die Regisseurin den Beweis, dass nichts spannender als die Realität ist und im Grunde jeder Interviewte inzwischen mit einem eigenen Wahrheitsbegriff operiert. Das führt am Ende zu einem regelrecht labyrinthischen Erzählbogen, der mehr Fragen als Antworten generiert und zugleich ungemein fesselt.

Ab dem 08.01.2021 (23.15) im ZDF und parallel abrufbar in der ZDF-Mediathek

 

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