Eine Frau reinigt auf ihren Knien den Boden eines hochherrschaftlichen Museums. Plötzlich sind Schritte zu hören. Die Kamera folgt dem entschlossenen Gang eines Mannes im Anzug, der, achtlos an ihr vorbeieilend, ein wertvolles Exponat trägt. Es ist das Skelett eines urzeitlichen Tieres, an seinem Behältnis ist ein handschriftlicher Zettel befestigt, auf dem ein weiblicher Name zu lesen ist. Kurzerhand wird dieser entsorgt und durch ein Schild mit männlicher Autorschaft ersetzt. Schon in dieser Auftaktsequenz macht der Filmemacher Francis Lee deutlich, welches feministische Anliegen „Ammonite“ verfolgt. Ein Statement, das im Laufe des Films allerdings keineswegs holzschnittartig entwickelt wird, da sich das Schicksal seiner Protagonistinnen differenziert entfaltet.
Die Entdeckerin des rätselhaften Urzeitwesens ist Mary Anning (Kate Winslet), die gemeinsam mit ihrer alternden Mutter an der rauen Küste des südenglischen Dorset lebt. Wortkarg und schroff speist sie Touristen mit Plunder ab, die sie aus Muscheln und Steinen herstellt, um ihr Auskommen zu sichern. Leidenschaftlich widmet sie sich hingegen der Suche nach Ammoniten, einer schon lange ausgestorbenen Art von Kopffüsslern, deren versteinerte Schneckenhäuser von der See angespült werden.
Zwischen den Bergen an Kieseln und Geröll wird Mary lebendig und kampflustig. Die störenden Kleiderschichten ihrer Röcke bindet sie energisch zu einem Knoten hoch, um allein mit festem Schuhwerk die Felsen zu erklimmen. Im Inneren der unscheinbaren Steine warten die Spuren geheimnisvoller Wesen auf ihre Entdeckung.
Zuhause ist kein Platz für Eigensinn
An den menschenleeren Weiten des nebeligen Strandes scheint die Freiheit greifbar. Zuhause ist hingegen kein Platz für Widerspruch und Eigensinn. Marys Mutter poliert mit großer Beharrlichkeit täglich die kleinen Figürchen auf der Anrichte und nennt sie dabei manchmal ihre Kinder. Die Tochter scheint sie im Geiste zu dieser makabren Sammlung zu zählen.
Wie sehr sie über deren Leben verfügt, deutet sich sinnbildlich in einer weiteren Szene an: Beim Aufschlagen eines gekochten Eis findet Mary während des gemeinsamen Abendessens zu ihrem Erschrecken im Inneren ein totes, ungeschlüpftes Küken. Doch statt aufzubegehren, zieht Mary sich in die Stille ihres Zimmers zurück. An der Werkbank legt sie mit minutiöser Genauigkeit die feinen Knochen der Urzeittiere frei. Die Utensilien hat sie von ihrem früh verstorbenen Vater geerbt; doch als Paläontologin in seine Fußstapfen zu treten scheitert vor allem an ihrer finanziellen Mittellosigkeit.
Aus der Versteinerung gelöst
Umso weniger kann sie das Angebot eines Gentlemans abschlagen, der sie eines Tages gezielt aufsucht. Der wohlhabende Robert Murchison ist ein passionierter Geologe, der versteht, wie relevant Marys Funde sind. Er bietet Mary eine hohe Summe, um von ihr das paläontologische Handwerk zu lernen, ein Angebot, dem sie nur unter dem Druck ihrer Mutter nachkommt.
Als Murchison zu einer Expedition aufbrechen will, tritt er mit einer weiteren Bitte an Mary heran: Sie soll seine schwer depressive Ehefrau Charlotte (Saoirse Ronan) betreuen, während er sich ins Ausland begibt. Trübsinnig, zart und fragil wirkt diese in der kargen Landschaft wie ein schöner, aber verlorener Fremdkörper. Sexuelles Interesse an ihrem Mann zeigt Charlotte nicht, dafür aber einen unbedingten Kinderwunsch, der sie immer weiter in die innere Leere zieht. Nach einem Bad im kalten Meer erkrankt Charlotte schwer und Mary muss Platz in ihrem Bett schaffen. Doch die unverhoffte Intimität zwischen den beiden bleibt nicht ohne Folgen.
Es gelingt der Inszenierung hervorragend, das Motiv der Versteinerung von den urzeitlichen Fossilien auf die Beziehung der Protagonistinnen zu übertragen. Unter dem engen Korsett der Bürgerlichkeit offenbart sich in Fieberträumen Charlottes begehrender Körper, so als hätten Marys vorsichtige Berührungen ihn endlich freigelegt.
Umgekehrt dauert es länger, bis die Forscherin ihre emotionale Bestürzung über die fremde Nähe annehmen kann. Als Charlotte sie ungestüm dazu überredet, auf die Einladung des Hausarztes mit ihr zu einem örtlichen Konzert zu gehen, behält sie sich ihre Schroffheit und beobachtet die schöne junge Frau aus der letzten Reihe. Doch eine Bekannte Marys nähert sich Charlotte, von der sie nur zu genau weiß, welches Interesse sie dabei antreibt. In einer der intensivsten Szenen des Films sieht man Mary unter den Klängen von Cello-Musik beim Anblick der beiden vor Eifersucht fast zerspringen. Abrupt läuft sie hinaus in den strömenden Regen, der wenig später auch Charlotte, die ihr nachläuft, durchnässt hat.
Liebe und eine geteilte Passion
Dass die Werkbank im Anschluss daran zum Ort der ersten erotischen Begegnung wird, zeigt auch, dass die Liebe der beiden Frauen durch ihre geteilte Passion für die eigene Arbeit getragen wird. Charlotte beginnt selbst an den Skeletten zu forschen und Steine zu sammeln, wobei sie ein völlig neues Selbstbewusstsein entwickelt. Sehr zum Missfallen von Marys Mutter greift sie auch in den Haushalt ein und verschwört sich mit ihrer neuen Freundin regelrecht gegen sie.
Kate Winslet beeindruckt durch ihren Wandel von der spröden Einsiedlerin zur tief empfindenden Geliebten. Und auch Saoirse Ronan gelingt erneut die Paraderolle einer unerwartet kraftvollen jungen Frau.
Es ist weniger eine homophobe Gesellschaft, die hier als Problem erscheint, als die persönlichen Konflikte der Protagonistinnen. Das verleiht „Ammonite“ zusätzlich eine interessante psychologische Note. So wird angedeutet, dass Mary schon früher eine lesbische Beziehung beendet hat, weil sie sich nach dem Tod des Vaters nicht von ihrer dominanten Mutter lösen konnte.
Charlotte wiederum erweist sich mit der Zeit als unerwartet besitzergreifend und will Mary vereinnahmen, was durch den Klassenunterschied zwischen den beiden Frauen verstärkt wird. Eine Wiederholungsstruktur, die Mary fürchtet, und durch die sie sich wieder verschließt. Charlotte muss ihr glaubhaft vermitteln, dass ihre finanzielle Unterstützung etwas dient, das sie beide miteinander teilen können: Die Liebe zu Marys Werk und dessen Verwirklichung in der akademischen Welt. Francis Lee gelingt es, die Liebesgeschichte ruhig und doch intensiv zu entfalten, wobei er sich ganz auf die Strahlkraft seiner Darstellerinnen verlassen kann.